Expertise und Emotionen
Die gemeinsame Anstrengung, das Zusammenführen von Fähigkeiten und Kompetenzen, hält auch Rolf Densing, ESA-Direktor für den Missionsbetrieb und Leiter des European Space Operations Centre, für den Grund des Erfolgs des Kontrollzentrums in Darmstadt. Für ihn ist das ESOC jedoch nicht nur das Operationszentrum, in dem Ingenieure, Mathematiker oder Astrophysiker in der Lage sind, einmalige Missionen wie die sieben Milliarden Kilometer lange Reise zu einem Kometen zu berechnen.
„Das ESOC ist wichtig für die Identität der ESA. Hier werden die Erfolge gefeiert, Emotionen gezeigt. Hier kommen alle zusammen und stoßen auf geglückte Missionen an.“ Festgehalten von Fernsehkameras, Fotografen und Medien weltweit. „Wer das Kontrollzentrum hat, ist sichtbar“, sagt Rolf Densing.
„Wir sind stolz auf unser Raumfahrt- und Wissenschaftsprogramm“, betont er. ESA und NASA seien heute gleichwertige Partner auf Augenhöhe und weltweit an der Spitze. Das zeigt sich auch in der Zahl der Satellitenstarts und der Komplexität der Missionen. Seit der Gründung des ESOC 1967 haben die Teams 77 Satelliten ins All befördert, darunter 60 ESA-Missionen, aber auch Telekommunikations- und Wettersonden anderer Betreiber wie etwa die Meteosat- und MetOp-Satelliten von Eumetsat, der europäischen Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten in Darmstadt.
Wurden in den 1980er und 90er Jahren noch ein bis zwei Satelliten jährlich gestartet und in den Orbit gebracht, sind es heute im Durchschnitt vier bis fünf, berichtet Juan Miró, Bereichsleiter für Bodensystem-Engineering. Die Personalstruktur hat sich dabei in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht wesentlich verändert. Etwa 900 Menschen arbeiten im ESOC, davon rund 266 Festangestellte und 600 Mitarbeiter von Vertragsfirmen. „Die Grenzen der Herausforderung, fachlich und technisch, haben sich im Laufe der Jahre jedoch immer weiter verschoben“, sagt Jocelyne Landeau-Constantin, Leiterin der Kommunikationsabteilung.
Die Kontroll-Teams des ESOC betreuen je nach Auftrag und Mission den Start der Satelliten und die frühe Phase im Orbit, die sogenannte Launch and Early Orbit Phase (LEOP), oder auch die gesamte Dauer und den Betrieb der Satellitenreise. Aktuell werden von Darmstadt aus 18 Satelliten gleichzeitig gesteuert.
Galileo und Copernicus: Nützliche Hilfen im Alltag der Bürger
Unter den ESA-Missionen sind nicht nur Flüge zu Planeten wie Mars oder Merkur, die der Forschung dienen, sondern auch solche, die das tägliche Leben auf der Erde unterstützen. Ein Meilenstein der Europäer ist das von ESA und EU gemeinsam auf den Weg gebrachte Galileo-Programm mit seiner Konstellation aus 26 Satelliten, die ab 2020 die punktgenaue, hochpräzise Navigation auf der Erde ermöglichen soll.
Galileo-Daten sind grundlegend für Verkehrs- und Transportströme am Boden, in der Luft und zu Wasser, aber auch für den Katastrophenschutz. Das globale Netzwerk macht Europa zudem unabhängig vom US-amerikanischen GPS-System. 18 Satelliten der Konstellation sind bereits im Orbit, einen Teil der Satellitenstarts hat das ESOC für das Galileo-Netzwerk betreut.
Dem Umwelt- und Klimaschutz dient Copernicus: Das Erdbeobachtungsprogramm der ESA und der Europäischen Kommission liefert mit seinen Sentinel-Satelliten (fünf davon sind schon im Orbit, weitere in Vorbereitung) detaillierte Daten für die Landnutzung, die Vegetationsveränderungen, Land- und Forstwirtschaft, die Beobachtung der Wasserqualität von Seen und Küstengewässern. Das sind wichtige Indikatoren für den Klimawandel und Hilfen für den Katastrophenschutz.
Zur Klimabeobachtung trägt auch Cryosat-2 beispielsweise bei – er vermisst die Eismassen der Erde und das Abschmelzen der Polkappen. All diese Satelliten werden von Darmstadt aus ins All begleitet und meistens auch über ihre Lebenszeit gesteuert.
Space Debris und Space Situational Awareness – die besonderen Schwerpunkte des ESOC
Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich das ESOC einen Ruf in der Erforschung von Weltraumtrümmern (Space Debris) erarbeitet. Erst im April 2017 kamen 350 internationale Raumfahrt-Experten, Wissenschaftler, Ingenieure und Vertreter aus Industrie und Politik im ESOC zur 7. Europäischen Space Debris-Konferenz zusammen, um gemeinsam über Strategien zur Vermeidung und Eindämmung des Weltraummülls zu beraten. Es ist das größte und bedeutendste Treffen zu diesem Thema weltweit.
„Darmstadt ist in der Erforschung von Weltraumschrott führend“, betont Juan Miró, in dessen Zuständigkeit das Space Debris Büro im ESOC liegt. Büroleiter Holger Krag gilt als einer der anerkanntesten Experten. Ausgediente Satelliten, ausgebrannte Raketenoberstufen, Trümmer, die durch Kollisionen entstehen und millionenfach bereits in einem dichten Schwarm die Erde umkreisen, bedrohen zunehmend die aktiven Satelliten und die Infrastruktur im All.
Die ESA hat ein Programm für die Weltraumlageerfassung (SSA) aufgelegt, in das rund 100 Millionen Euro investiert werden, berichtet ESOC-Leiter Rolf Densing. Auf dieses SSA-Programm, das nicht nur den Weltraummüll umfasst, sondern auch die mögliche Bedrohung durch Meteoriten auf Kollisionskurs zur Erde und die Beobachtung des Weltraumwetters, hat sich das ESOC mit einem zehnköpfigen Team spezialisiert.
„Weltraumstürme, erhöhte Sonnenaktivitäten und Strahlungen können Satelliten lahm legen und damit auch die Navigation, Telekommunikation oder Stromversorgung auf der Erde“, sagt Rolf Densing. Das ESOC arbeitet an einer präziseren Erfassung und besseren Vorhersage, um solche Ausfälle und Blackouts zu verhindern.
Megakonstellationen
Die Expertise des ESOC etwa in Fragen Weltraummüll wird in Zukunft wichtiger werden, weil kommerzielle Telekommunikationsanbieter sogenannte Megakonstellationen von mehreren hundert oder gar tausend Satelliten ins All bringen wollen. So plant etwa das US-Unternehmen OneWeb 648 Satelliten für ein Internet aus dem All in die Umlaufbahn zu schießen. Das erhöht das Risiko von Kollisionen, verstärkt aber auch den ohnehin schon großen Wettbewerbsdruck.
„Die Zukunft der Raumfahrt ist sehr dynamisch, sie wird eine zunehmende Rolle in der Gesellschaft spielen“, sagt Juan Miró. Nicht nur nationale Zentren wie das Deutsche Raumfahrtkontrollzentrum in Oberpfaffenhofen oder das französische ATV-Zentrum in Toulouse übernehmen heute Missionsaufgaben der ESA, auch private Betreiber und kommerzielle Firmen drängen zunehmend in den Bereich der Satellitensteuerung.
Der Routinebetrieb von Telekommunikationssatelliten mit geringem Personalaufwand ist möglich und ein Riesenmarkt, „doch eine Landung auf einem Kometen oder einem Saturn-Mond kann nicht jeder“, so Rolf Densing. „Da besitzt das ESOC Kernkompetenz.“ Das Risiko, einen mehrere Millionen Euro teuren Satelliten zu verlieren, wiege sicherlich schwerer als die Kosten für eine sichere Reise in den Orbit, ist er überzeugt.
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