Weltraummüll: Wie hoch ist das Risiko einzuschätzen?
Die Einschätzung des Risikos, dem im Einsatz befindliche Raumfahrzeuge und Satelliten durch im All herumfliegenden Schrott ausgesetzt sind, stellt eine große Herausforderung dar und hängt davon ab, ob die Gefahr eines Zusammenstoßes mit einem bekannten, berechenbaren Objekt oder mit einem unbekannten Objekt untersucht werden soll. Zumindest die bekannten Objekte sind gute Bekannte. Dabei handelt es sich um nicht mehr genutzte Raumfahrzeuge, andere Satelliten, Raketenkörper und große Bruchstücke vergangener Havarien.
„Es ist inzwischen üblich, dass erdnahe Satelliten eine Extramenge Treibstoff mit sich führen, die nur dazu dient, während ihrer Betriebslebensdauer notwendige Ausweichmanöver durchzuführen“, erläutert Heiner Klinkrad, Experte für Weltraumschrott am ESOC in Darmstadt.
Kleine Objekte, große Bedrohung
Die Einschätzung des Risikos, das kleinere Schrottpartikel und Meteoriten darstellen, ist jedoch etwas ganz anderes, da die Flugbahn dieser Objekte nur schwer oder gar nicht verfolgt werden kann.
Kleinschrott reicht von mikroskopisch kleinen Staubteilchen, die relativ harmlos sind, bis zu Objekten mit einem Durchmesser von etwa 1 cm. Objekte dieser Größenordnung stellen zwar eine Bedrohung dar, aber Schutzschilde wie beispielsweise das Whipple Shield sind robust genug, um diese abzuwehren. Solche Schutzschilde können jedoch nur bei bestimmten Missionen, wie z. B. bei der Internationalen Weltraumstation (ISS) verwendet werden.
1 bis 10 cm große tödliche Objekte
Objekte mit einer Größe von 1 bis 10 cm stellen die eigentliche Bedrohung dar. Sie sind zu klein und zu zahlreich, als dass ihre jeweilige Flugbahn verfolgt werden könnte, aber sie können im Ernstfall jedes Raumfahrzeug, auf dem sie einschlagen, schwer beschädigen oder gar “abschießen”.
Zur Einschätzung des Risikos in der gefährlichen Größenordnung von 1 bis 10 cm setzen die Forscher der ESA und anderer Weltraumorganisationen auf hoch entwickelte Wahrscheinlichkeitsmodelle und Softwareprogramme. Zur Vorhersage des Risikos werden die Querschnittsfläche des Raumfahrzeugs, seine Höhe und Flugbahn im Orbit sowie weitere Faktoren herangezogen.
So wurde beispielsweise für einen Satelliten mit einer Querschnittsfläche von 100 m2 (einschließlich Sonnenkollektoren), der die Erde in einer Höhe von 400 km umkreist, als mittlere Zeit zwischen zwei Kollisionen mit einem Partikel der Größe 10 cm eine Dauer von 15.000 Jahren errechnet.
Alle 10 Jahre eine Kollision
Dieser Zeitraum mag zwar auf den ersten Blick für jeden einzelnen Satelliten beruhigend lang erscheinen, aber die Anzahl der Satelliten im Orbit ist groß. „Wenn man die Querschnittsfläche aller im Orbit kreisenden Satelliten zusammenrechnet, erhält man als mittlere Dauer zwischen zwei Kollisionen mit zerstörender Wirkung einen Zeitraum von etwa 10 Jahren“, betont Klinkrad.
Bedenkt man, dass eine Kollision mit einem einzigen 10 cm großen Schrottpartikel ein mehrere Millionen teures Raumfahrzeug zerstören oder die (bemannte) ISS treffen kann, so wird sogar das Risiko nur eines Einschlags alle 10 Jahre plötzlich zu einer sehr ernst zu nehmenden Gefahr.
Kollisionen mit zerstörender Wirkung kommen wirklich vor
1993 wurde bei der ersten Wartung des Weltraumteleskops Hubble an einer Hochleistungsantenne ein Loch von mehr als 1 cm Durchmesser gefunden.
Im Juli 1996 wurde der französische Aufklärungssatellit Cerise vom Explosionsfragment der Oberstufe einer Ariane-Rakete, das ironischerweise bereits katalogisiert war, getroffen und schwer beschädigt, wobei ein 4,2 Meter langer Abschnitt des Auslegers zur Schwerkraftgradienten-Stabilisierung abgerissen wurde.
Wird es in der jetzigen Dekade weitere Kollisionen geben? Niemand kann dies mit Gewissheit vorhersagen, aber ganz offensichtlich sind Schritte zur Entschärfung der Situation erforderlich.
ESA-Forschung zum Problem des Weltraummülls
Neben einem am ESOC entwickelten Partikelwarnsystem betreibt die ESA am European Space Research and Technology Centre (ESTEC) in den Niederlanden weitere Forschungen, um dem Problem des Weltraumschrotts zu begegnen, wobei der Schwerpunkt vor allem auf dem Weltraumsektor liegt. Hier gibt es folgende Forschungsaktivitäten:
- Entwicklung und Bereitstellung von Einschlagsdetektoren
- Entwicklung und Test von Schutzschildkonstruktionen
- Unterstützung für die Validierung von Schutzschildkonstruktionen
- Aufprallanalyse unter Verwendung zurückgewonnener Teile
- Feststellung des durch den Einschlag bewirkten Schadens
Die ESA ist jedoch nicht die einzige Organisation, die sich mit dem Weltraumschrott beschäftigt. Dr. Toshiya Hanada, Associate Professor am Department of Mechanical and Aerospace Engineering der Kyushu University in der Nähe von Fukuoka in Japan arbeitet an der Entwicklung optischer Sensoren, die die Solarkollektoren von Satelliten nach Einschlägen absuchen können, sowie an einem Modell, das die Verteilung des Weltraumschrotts in der Umlaufbahn darstellt.
Dr. Hanadas Forschungsteam widmet dabei der geosynchronen Erdumlaufbahn besondere Aufmerksamkeit. „Wir haben ein Orbital-Evolutionsmodell des Weltraummülls für die geosynchrone Erdumlaufbahn entwickelt und Einschlagsversuche mit geringer Geschwindigkeit, d. h. unter 1,5 km/s, durchgeführt, um solche Einschläge in Raumfahrzeuge zu modellieren, die sich in dieser Umlaufbahn befinden“, erläutert er.
Dies zeigt, dass das Problem des Weltraumschrotts inzwischen auf der ganzen Welt ein Thema ist.
Freier Zugriff auf Software zur Risikoermittlung
Am ESOC gibt Dr. Klinkrad einen Einblick in die Software zur Risikoabschätzung, die von der ESA in Zusammenarbeit mit einer Partnerfirma entwickelt wurde. Die Software heißt DRAMA (Debris Risk Assessment and Mitigation Analysis), steht der Weltraumgemeinde frei zur Verfügung und kann für jede beliebige Mission zur Einschätzung des Risikos eines katastrophalen Einschlags eingesetzt werden.
Trotz des Vorhandenseins solcher Werkzeuge ist es unwahrscheinlich, dass sich die Situation in diesem Bereich bessert, bevor nicht konzertierte, abgestimmte und systematische Schritte zur Verringerung der inzwischen allgemein anerkannten Risiken unternommen werden.
Die Betreiber von Raumfahrzeugen müssen jegliche Zerstörung, wie z. B. beabsichtigte und unbeabsichtigte Explosionen oder Kollisionen ihrer Flugkörper vermeiden, da diese die Hauptursachen für nicht berechenbaren Raumschrott mit im Ernstfall tödlicher Wirkung sind.
Redaktioneller Hinweis:
Im dritten und letzten Teil der Reihe über Weltraumschrott, „Risikoverringerung und Argumentation für einen Verhaltenskodex“, werden aktuelle Vorschläge für eine Entschärfung der Gefahren durch den Weltraumschrott vorgestellt, die wenig kosten, aber wesentlich zum „Umweltschutz“ im All im Hinblick auf seine zukünftige Nutzung beitragen.
Teil 3 wird Anfang April zur Einstimmung auf die „4th European Conference on Space Debris“ veröffentlicht, die vom 18. bis 20. April 2005 am ESOC in Darmstadt stattfinden wird. Wenn Sie sich für die Konferenz anmelden möchten, das Veranstaltungsprogramm oder zusätzliche Informationen wünschen, klicken Sie auf den Konferenz-Link rechts oben auf dieser Seite.