„Wir müssen immer einen Schritt voraus sein“
Roboter im Kontrollraum oder Virtual Reality bei der Satellitensteuerung? Sieht so möglicherweise die Raumfahrt 2030 aus? Wie kann und sollte sich das European Space Operations Centre (ESOC) in Darmstadt mit seiner Expertise und seinen Stärken für die Zukunft positionieren?
Darüber diskutiert und philosophiert ESOC-Zentrumsleiter Dr. Rolf Densing mit Nicolas Bobrinsky, Leiter des Space Situational Awareness (SSA) Programms der ESA, und ESOC Development Manager Alexander Cwielong.
Autonomes Navigieren
Sommerzeit ist Ferienzeit. Sitzen wir künftig statt genervt im Stau ganz entspannt bei einem kühlen Getränk im Clubsessel, während unsere Autos uns ans Meer oder in die Berge chauffieren? Für Dr. Rolf Densing, ESA-Direktor für den Missionsbetrieb, ist das eine nicht mehr allzu weit entfernte Realität. „Autonomes Fahren ist heute schon ein allgegenwärtiges Thema“, sagt er. Eine Vorstellung, die auch auf andere Bereiche übertragbar ist – etwa die Raumfahrt. „Die Satelliten der Zukunft werden mit Sicherheit sehr viel autonomer agieren“, prognostiziert der Chef des Europäischen Satellitenkontrollzentrums (ESOC).
Dr. Rolf Densing sieht damit auch eine Fortentwicklung bei den künftigen Aufgaben seines Hauses voraus, was aber nur eine der erwarteten Veränderungen darstellt. Es ist laut Dr. Densing auch von einer weiteren Standardisierung in der Raumfahrt auszugehen, bei der wenige große Hersteller für Satelliten-Plattformen vielseitig einsetzbare Module und Instrumente entwickeln werden.
Statt wenigen Einzelanfertigungen erwartet er künftig viele Satelliten „von der Stange“, jeder mit seinen eigenen wissenschaftlichen Extras –eine weitere Parallele zur Automobilindustrie. „Trotzdem wird es auch wie heute die großen Forschungssonden als Unikate weiter geben“, so Dr. Rolf Densing.
Dr. Rolf Densing entwirft mögliche weitere Zukunftsszenarien: Im Kontrollzentrum im ESOC leuchtet 2030 nur noch ein großes Display statt vieler kleiner. Tastaturen oder die PC-Mouse gehören der Vergangenheit an. Stattdessen spricht das Kontroll-Team mit intelligenten Systemen, die die Flotte selbstständig kontrollieren. „Oder wir tragen eine Virtual Reality-Brille und klappen die Sonnenpaneele der Sonden mit einer Handbewegung aus. Vielleicht steuern wir aber die Manöver auch per Gedankenübertragung“.
Wer weiß, wie schnell was künftig alles möglich sein wird in einer digitalisierten Welt. Egal welche Systeme in der Zukunft zum Zuge kommen, sie müssen von Menschen entwickelt werden. Und die heutigen Arbeiten sind eine Voraussetzung für diese Zukunft. „Wir müssen im ESOC daher diese Zukunft mitgestalten und immer mindestens einen Schritt voraus sein“, betont Dr. Densing.
Veränderte Konzepte
2018 startet mit dem US-amerikanischen OneWeb eine der ersten Satelliten-Megakonstellationen. Über 600 kleine Cubesats sollen ein globales Internet aus dem Weltall anbieten. Eine Ausfallquote von rund zehn Prozent der Satelliten haben die Anbieter da schon eingeplant. „Das ist ein ganz anderes Konzept als in der heutigen Raumfahrt“, sagt Alexander Cwielong, zuständig für die Entwicklung des ESOC Zentrums. Das Kontrollzentrum in Darmstadt hat noch nie einen Satelliten verloren, das gehört zum Anspruch des Teams.
"Die vielen Cubesats bei OneWeb oder ähnlichen Formationen sind vorprogrammiert", ergänzt SSA-Programmmanager Nicolas Bobrinsky, "und sie brauchen daher nur noch wenig individuelle Betreuung." Allerdings birgt die große Zahl dieser Kleinstsatelliten neue Herausforderungen für den Missionsbetrieb, wie etwa das Behalten der Übersicht im All.
Große wissenschaftliche Forschungssatelliten werden jedoch auch 2030 noch zum Programm der ESA gehören, betont Missions-Direktor Dr. Rolf Densing und nennt als ein Beispiel die LISA-Gravitationswellen-Mission, die 2034 starten soll und deren Vorbereitungsmission gerade erfolgreich abgeschlossen wurde.
Aber der Trend hin zu mehr kommerzialisierten Missionen, allen voran in der Telekommunikation, Navigation und in der Erdbeobachtung, ist bereits zu beobachten. Er wird sich sicherlich fortsetzen und auch in der Wissenschaft Einzug halten. So bietet etwa das Unternehmen Astrobotik aus den USA schon heute Wissenschaftlern seine Dienste an.
Astrobotik baut im Auftrag der Forscher wissenschaftliche Instrumente, die als Payload mit auf Reisen ins All gehen, und fliegt auch die Mission. Die Wissenschaftler erhalten allein die Daten, die sie brauchen, müssen sich aber keine Gedanken mehr über die technische Ausführung machen. Die Bodenproben vom Mond oder Asteroiden gibt es also künftig auf Bestellung.
Kooperation mit Partnern
Enge Kooperation mit der Industrie hat bei der ESA eine sehr lange Tradition – was weitere innovative Modelle aber nicht ausschließt, beispielsweise die Grand Challenge. Wie lassen sich beispielsweise Bergbautechniken und Erfahrungen auf der Erde künftig für den Abbau von Bodenschätzen auf dem Mond oder fernen Himmelskörpern nutzen?
Wie weit ist die Robotik da oder kann die Ausrüstung für ein zukünftiges Dorf auf dem Mond auch per 3-D-Drucker an Ort und Stelle hergestellt werden?
Solche neuen Ideen sucht die ESA zusammen mit innovativen Köpfen aus Gesellschaft und Wirtschaft. Laut der SPACE 4.0-Initiative der ESA soll Raumfahrt aber nicht Selbstzweck sein, sondern mehr denn je zur Lösung globaler gesellschaftlicher Herausforderungen dienen wie der Klimaveränderung, Kommunikation, Verkehrslenkung, bei Gesundheits- oder Ernährungsfragen.
„Daten sind das Erdöl in diesem neuen Jahrtausend“, sagt Nicolas Bobrinsky. Konzerne werden künftig Satelliten wie heute Dienstwagen kaufen. Weltraum und Raumfahrt wird zum alltäglichen Geschäft gehören, ist sich auch Dr. Rolf Densing sicher. „Diese Zukunftsszenarien müssen wir erkennen und unsere Rolle als ESOC dabei definieren“, betont der Darmstädter Zentrumsleiter.
ESOC muss Expertenwissen bieten
Eine Rolle des ESOC sieht Dr. Rolf Densing beispielsweise darin, sich mit Spezialwissen und hochkomplizierten Missionen zu positionieren. Der Kölner wählt ein Bild aus der Automobilbranche: „Die Standardautos haben die anderen. Wir bauen dagegen die Rennwagen oder die Schwertransporter“, sagt er mit Blick auf das ESOC. Das Zentrum könnte verstärkt auch komplizierte Missionen für andere Nationen oder Organisationen übernehmen.
Mit jahrzehntelanger Erfahrung und Expertise empfiehlt sich das ESOC bereits heute, wenn es um Themen wie Weltraumschrott als Folge steigender Weltraumaktivitäten, Erdnahe Objekte und Asteroiden sowie das Weltraumwetter geht.
Genau die Bereiche, für die Nicolas Bobrinsky als Leiter des Space Situational Awareness (SSA)-Programms der ESA zuständig ist. Die finanzielle Ausstattung des SSA-Programms wurde im Dezember 2016 auf 100 Millionen Euro verdoppelt. Ein Zeichen für die zunehmende Bedeutung. „Denn wenn Satelliten Teil unserer lebenswichtigen Infrastruktur sind, dann tun wir auch gut daran, sie zu schützen.“ Ein Team aus ESA-Mitarbeitern und Vertragspartnern kümmert sich seit 2013 im ESOC um diese Aufgaben, die wichtig sind für Sicherheit, Kommunikation und auch die Wirtschaft auf der Erde.
Weltraumwetter-Vorhersage für Europa
„Jeder Euro, der hier eingesetzt wird, spart der europäischen Wirtschaft sechs Euro“, betont Nicolas Bobrinsky. Denn Solarstürme können die Technik von Satelliten beschädigen und damit die Kommunikation, Navigation, Wettervorhersage und den Flugverkehr lahm legen, die Kommunikation oder auch die Stromversorgung am Boden stören. 2003 kam es zu heftigen Sonnenstürmen, die Ausfälle und über 76 registrierte Schäden an Satelliten verursachten. Ließen sich diese Weltraumwetter-Ereignisse früh genug vorhersagen, könnten Satelliten rechtzeitig „aus dem Wind“ gedreht und empfindliche Instrumente abgeschaltet werden. Die Vorwarnzeiten für Energiekonzerne und Flughäfen würden sich verbessern lassen und Flugzeuge könnten auf andere Routen geschickt werden.
Die von Solarstürmen erzeugte hohe Strahlung gefährdet Piloten, Passagiere und auch die Astronauten auf der ISS, die durch kein Magnetfeld geschützt sind. Dr. Rolf Densing: „Unser Ziel ist die Weltraumwetter-Vorhersage für Europa.“ Dafür müssen Überwachungssysteme im Weltraum und am Boden geschaffen werden.
In Kooperation mit den Amerikanern will die ESA einen Satelliten an die sogenannten „Lagrange“-Punkte entsenden, also die Punkte zwischen Sonne und Erde, an denen sich die gegenseitige Schwerkraft aufhebt und Satelliten damit still stehen. Die NASA-Sonde befindet sich am Lagrange Punkt 1 (1,5 Millionen km von der Erde entfernt) und die ESA-Sonde dann am Lagrange Punkt 5 (150 Millionen km entfernt). Da die beiden Missionen aus unterschiedlichen Blickwinkeln schauen werden, lassen sich Solarstürme damit früher erkennen und genauer prognostizieren. Die ESA Mission ist für 2023 avisiert, sagt Dr. Rolf Densing.
Vorwarnung für Asteroiden
Doch auch die Vorwarnzeit für Asteroiden, die für die Einschlagsregionen auf der Erde gefährlich werden können, muss weiter erhöht werden, betont Nicolas Bobrinsky und verweist auf verheerende historische Ereignisse wie die Tunguska-Katastrophe 1908, wo ein 40 Meter großer Asteroid eine Zerstörungskraft tausendmal stärker als die Hiroshima-Bombe entwickelte und tausende Quadratkilometer Verwüstung hinterließ. „Wir brauchen spezielle Teleskope zur Himmelsbeobachtung und wir müssen Abwehrmaßnahmen entwickeln.“
Solche Ereignisse sind statistisch zwar sehr selten, aber wegen der möglichen Schäden nicht zu vernachlässigen. Bisher gibt es drei Strategien, um Objekte auf ihrem Weg zur Erde aufzuhalten: Durch Kollision, Abdrängen oder Beschuss. Und je früher man die Objekte erkennt, umso mehr Zeit hat man für die Abwehrmaßnahmen. „Bis heute existiert keine einsatzfähige Technologie dafür. Wir arbeiten daran, dies aber zumindest bald zu testen“, sagt Dr. Rolf Densing. „Wir müssen solche Perspektiven aufzeigen. Das SSA-Programm ist daher ein Wachstumsfeld für das ESOC.“
ESOC-Wachstum auch am Boden
Wachstum – baulich und personell - verzeichnet das ESOC-Zentrum seit vielen Jahren auch am Boden. Die ersten Gebäude stammen aus den 1960er Jahren und mussten in den vergangenen Jahren durch Neubauten ersetzt werden. So entstand 2015 auch ein neues nachhaltiges Bürogebäude erstmals „außerhalb des Zauns“ an der Robert-Bosch-Straße in Darmstadt auf der ESOC Erweiterungsfläche. Kosten der ersten Phase der laufenden Runderneuerung: rund 15 Millionen Euro. Als nächstes Projekt steht der Abriss eines Betriebsgebäudes mit Kontrollräumen und Rechenzentrum aus den 1970er Jahren an. Jedoch erst, wenn dafür ein Ersatz auf dem Gelände bereitsteht, erwartet wird dies bis 2020. Hier liegt das Budget, so ESOC Development Manager Alexander Cwielong, bei abermals rund 15 Millionen Euro.
Auch Modernisierungen des Bestands sieht ein Masterplan vor, der für das mehr als 50 000 Quadratmeter große ESOC-Gelände erstellt wurde. „Wir können noch weiter expandieren“, so Cwielong. Rund 40 Prozent mehr Nutzung gibt das heutige Areal noch her. Nicht alles müssen Büros und Kontrollräume sein – Teil des Masterplans ist auch ein Besucherzentrum.
Das ESOC sieht er als „Kristallisationspunkt“, denn Kooperationen beschränkten sich nicht nur auf das ESA-Gelände. Die Zusammenarbeit mit der TU Darmstadt, der Hochschule, den Industriefirmen oder auch dem ESA Business Incubation Center in der Nachbarschaft zeige, „wir geben das Know-how, aber zusammen arbeiten, forschen und lehren können wir und unsere Partner überall.“
„Wir werden die Herausforderungen überwinden und die sich bietenden Chancen ergreifen. Wir haben die Experten und die Kompetenz, das ESOC als das führende Zentrum für Missionsbetrieb, Engineering und Space Situational Awareness bis 2030 und darüber hinaus weiterzuentwickeln“, resümiert Dr. Rolf Densing.
Das ESOC: Where missions come alive
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