Hightech aus dem Euroland
Europäische Wissenschaftspremiere an Bord der Internationalen Raumstation ISS: Im März 2001 begannen Mitgliedsländer ESA mit ersten anspruchsvollen Forschungsarbeiten. Hierzu gehört das aus Deutschland kommende und in Kooperation mit Russland entwickelte Plasmakristall-Experiment. Aus der Versuchsanlage des Jahres 2001 soll ein komplexes internationales Labor entstehen, das ab 2004 im europäischen Columbus-Modul der ESA allen ISS-Teilnehmerstaaten zur Nutzung offen steht.
Der tonnenförmige unscheinbare Container hat es in sich. Inklusive Computer- und Videotechnik verbirgt sich hier Technik im Werte von 7,7 Millionen DM. In ihm steckt auch jenes Druckgefäß, in dem die russischen Kosmonauten Juri Gidsenko und Sergei Krikaljew von der ISS-1-Stammbesatzung Anfang März 2001 die ersten Plasmakristalle erzeugten und damit zugleich das erste naturwissenschaftliche Experiment an Bord der ISS durchführten. Damit beginnt Russland noch vor dem amerikanischen Partner mit der Forschungsarbeit auf der Erdaußenstation. Und Europa sowie Deutschland sind in einem Boot. Das viertägige Plasma-Experiment soll als Versuchsreihe von den Besatzungen der kommenden zwei Sojus-Taxiflüge im Mai und Oktober 2001 sowie von der dritten und fünften ISS-Stammbesatzung fortgeführt werden.
Weltraum-Transporter Progress M-44
Lange mussten die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching und ihre russischen Kollegen vom Moskauer Hochenergie-Forschungsinstitut IHED auf diesen Tag warten. Die Versuchsreihe sollte ursprünglich auf der russischen MIR-Station durchgeführt werden. Doch die Unwägbarkeiten beim weiteren Betrieb des Weltraum-Oldtimers sorgten schnell zu einem Umschwenken auf die ISS. Die Plasma-Hightech-Anlage wurde nun Ende Februar mit dem russischen Transportraumschiff Progress M-44 zur Raumstation gebracht. Am 1. März erfolgte der Zusammenbau der Hardware, was sich zunächst problematisch erwies. Hier kam jedoch den Experimentatoren die reiche Weltraumerfahrung von Sergei Krikaljew zugute, der mit menschlichem Pioniergeist und russischem Improvisationstalent die Hardware zum Funktionieren brachte. Die Wissenschaftler sind happy: Schon in den ersten Tagen registrierten sie vollkommen unbekannte Plasma-Effekte, die sie nie erwartet hätten.
Das Plasmakristall-Experiment
Der Ablauf ist klar und einfach, die Ergebnisse könnten aber im Bereich Materialwissenschaften revolutionierende Auswirkungen haben. In einer wenige Zentimeter großen Kammer wird ein Vakuum erzeugt, in die Argon geleitet und solange mit Hochfrequenz aufgeheizt wird, bis der Plasmazustand erreicht ist. Über einen Zerstäuber gelangen allerfeinste Kunststoffpartikel in das Plasma. Laserlicht macht die Geschehnisse sichtbar. Die Videobilder werden über eine zweikanalige Telescience-Apparatur zur Erde gefunkt, von wo aus die Wissenschaftler mit eingreifen und die Kosmonauten unterstützen können. Zu Ehren des erst jüngst verstorbenen Professor Anatoli Nefedow, einem der wissenschaftlichen Väter der Mission, erhielt das Plasmakristall-Experiment (PKE) seinen Namen.
Wie aus einem Plasma ein Kristall wird
Während auf der Erde das Plasma nur künstlich erzeugt werden kann, setzt sich die Materie im Weltraum zu über 90 Prozent aus Plasma zusammen. Einer Materieform, die auch gern als der „vierte Aggregatzustand" bezeichnet wird. Ihre Eigenschaften werden intensiv erforscht, hauptsächlich in der Ionosphäre der Erde. Besonderes Interesse gilt den so genannten komplexen Plasmen. Als Plasma wird ein heißes Gas bezeichnet, in dem sich die Atome in ihre Bestandteile – positiv geladene Ionen und negativ geladene Elektronen – aufgelöst haben und wild durcheinander fliegen. Es ist der ungeordnetste Zustand der Materie, der aber insgesamt gesehen ladungsneutral ist. Gelangen in dieses Plasma Kolloide, das sind winzige Mikropartikel, wie beispielsweise Staub, so kann daraus ein „komplexes Plasma" entstehen, das ebenfalls ladungsneutral ist. 1994 wiesen Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik erstmals nach, dass solche komplexen bzw. kolloiden Plasmen sich unter bestimmten Bedingungen spontan selbst organisieren und sowohl flüssige als auch kristalline Formen annehmen können. Damit waren die exotischen, ebenfalls ladungsneutralen, „Plasmakristalle" geboren. Es handelt sich hierbei um einen bis dahin unbekannten Plasmazustand. An ihm lassen sich die Eigenschaften der Materie in den Phasenübergängen vom Gas zur Flüssigkeit und zum festen Körper studieren. Bald war klar, dass für weitere Untersuchungen unbedingt die Schwerelosigkeit bzw. die Mikrogravitation benötigt wird, denn auf der Erde drückt die Gravitation die Kristalle zusammen. Untersuchungen von dreidimensionalen Oberflächen- und Grenzflächenphänomenen sind deshalb erst jetzt im All, an Bord der Internationalen Raumstation, möglich.
Kompetenz und Pionierarbeit
Das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching hat in punkto „Plasmakristalle" die Nase vorn. Sein Mitarbeiter und heutiger Direktor, der Astrophysiker Prof. Gregor Morfill, hatte ihre Existenz bereits vor über einem Jahrzehnt postuliert. Seit der Entdeckung des Plasma-Kristall-Effektes im Jahre 1994 leisten die Münchner Pionierarbeit. Sie führten mehrere Parabelflugkampagnen sowie Versuche auf Höhenforschungsraketen durch. Grosse Erfahrung besitzt auch das Moskauer Institut IHED. Wesentlichen Anteil an der Realisierung des aktuellen Experimentes hatte neben dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) die Firma Kayser-Threde, die für die Erstellung der Hardware zuständig war. Dazu gehören neben der Versuchszelle auch die Einrichtungen zur Steuerung der Bild- und Messdatenaufnahme sowie zur Übertragung bzw. Speicherung der gewonnenen Daten.
Weltspitze auf der Erde und im All
Von der Versuchsreihe werden vor allem Erkenntnisse für die Grundlagenforschung erwartet. Es zeichnen sich aber auch etliche praktische Anwendungen ab. Schon heute spielen Plasmen in der Technik eine große Rolle bei der (Spezial-)Beschichtung von Oberflächen, wie beispielsweise bei der Herstellung von Solarzellen und von Chips. Etliche Erfindungen wurden daher bereits von dem Forscherteam um Morfill/Thomas patentiert. Das Plasmaexperiment PKE-Nefedow stellt aber erst den Anfang dar. Ab 2004 ist ein internationales Labor für Plasmaphysik auf der ISS geplant. Die International Microgravity Plasma Facility (IMPF) würde dann als modular aufgebautes System die Plasmaforschung für mindestens zehn Jahre begleiten. Die erweiterten Versuchsanordnungen ermöglichen neben der Grundlagenforschung auch die Untersuchung anwendungsorientierter Prozesse, wie die Beschichtung und Oberflächenmodifizierung von Mikropartikeln. Die von den Mitgliedsländern der europäischen Raumfahrtagentur ESA gewonnenen Erfahrungen fließen in die Euro-Forschungen an Bord des Columbus-Moduls der ESA ein. Sein Start ist gegenwärtig für Ende 2004 vorgesehen. Columbus wird den Europäern im All die Möglichkeit geben, weitere Weltspitzenleistungen erringen, sichern und ausbauen zu können.