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Die Inbetriebnahme der Solar Orbiter-Instrumente erfolgte wegen COVID-19 hauptsächlich von zu Hause aus.
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Solar Orbiter ist bereit für wissenschaftliche Experimente trotz COVID-19

29/06/2020 105 views 0 likes
ESA / Space in Member States / Austria

Die ESA-Mission Solar Orbiter zur Erforschung der Sonne hat ihre viermonatige technische Überprüfung erfolgreich abgeschlossen. Trotz der Herausforderungen, die die COVID-19-Pandemie mit sich brachte, ist die Raumsonde nun bereit, wissenschaftliche Messungen zu beginnen, während sie die Reise zur Sonne fortsetzt.

Solar Obiter wurde am 10. Februar 2020 mit einer Atlas V-Rakete von Cape Canaveral in Florida gestartet. Die internationalen Teams, die für die 1,5 Milliarden Euro teure Mission arbeiten, rechneten nicht damit, dass die Ausbreitung von COVID-19 die Arbeit in ihren Hightech-Kontrollräumen innerhalb weniger Wochen einschränken würde, und sich der anspruchsvolle Prozess der Inbetriebnahme der Instrumente der Raumsonde sehr kompliziert gestalteten würde.

Unter normalen Umständen hätten sich die Wissenschaftler und Ingenieure des Projekts im Europäischen Satellitenkontrollzentrum (ESOC) in Darmstadt versammelt. Sie hätten gemeinsam in enger Abstimmung mit den Flugingenieuren zusammengearbeitet, um das Raumfahrzeug und seine Instrumente zum Leben zu erwecken.

Während der besonders herausfordernden ersten Wochen von Solar Orbiter in der Umlaufbahn verlief auch alles mehr oder weniger wie gewohnt. Als jedoch die Instrumententeams im März ins ESOC eingeladen wurden, änderte sich die Situation in Europa rasch.

Jedes der zehn Instrumententeams benötigte Vertreterinnen und Vertreter vor Ort. Zwei bis drei Mitglieder jedes Teams durften sich in einen speziellen Kontrollraum für den Solar Orbiter begeben. „Die anderen Vertreterinnen und Vertreter arbeiteten von einem eigens dafür eingerichteten Bereich aus“, berichtet Sylvain Lodiot, ESA-Spacecraft Operations Manager für Solar Orbiter. Es ist in der Regel nicht ungewöhnlich, dass 15 oder mehr Personen auch im Hauptkontrollraum tätig sind. Als  allerdings innerhalb einer Woche klar wurde, dass die europäischen Länder auf einen Lockdown zusteuerten, wurden die externen Teams aufgefordert, nach Hause zurückzukehren.

Das italienisch-deutsch-tschechische Team hinter dem METIS-Koronographen, einem Instrument, das die sichtbaren, ultravioletten und extrem ultravioletten Emissionen der Sonnenkorona in bisher nicht gekannter zeitlicher und räumlicher Auflösung misst, war gerade dabei, das Instrument zum ersten Mal einzuschalten, als die Entscheidung getroffen wurde, dass Personen aus den damaligen Coronavirus-Hotspots in den italienischen Regionen Piemont und Lombardei aus Sicherheitsgründen das ESOC nicht mehr betreten durften.

„Es war schwierig, die Kompetenzen des Teams spontan auf diejenigen abzustimmen, die bleiben konnten“, so Marco Romoli, leitender Wissenschaftler für METIS. „Doch dank der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ESOC und der Nervenstärke der Anwesenden konnten wir die Aktivität erfolgreich abschließen.“

Die Lage spitzte sich weiter zu, als einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ESA-Kontrollzentrum positiv auf das Virus getestet wurden und der Standort tatsächlich geschlossen wurde.

Die COVID-Einschränkungen

Leitender SWA-Wissenschaftler Chris Owen verwandelt das Spielzimmer seines Sohnes in einen improvisierten Kontrollraum
Leitender SWA-Wissenschaftler Chris Owen verwandelt das Spielzimmer seines Sohnes in einen improvisierten Kontrollraum

„Wir mussten die Menschen schützen“, betont Sylvain Lodiot, der die Aufgabe hatte, alle Instrumente von Solar Orbiter abzuschalten, bevor er nach Hause ging. „Es war ein furchtbares Gefühl, weil ich nicht wusste, wann wir diese Instrumente wieder hochfahren würden“, erinnert er sich.

Aber nach etwa einer Woche kehrte eine Notbesetzung zurück, die unter vollständiger Einhaltung der Maßnahmen der sozialen Distanz mit Instrumententeams aus der Ferne zusammen arbeitete, um die Inbetriebnahme weiterzuführen.

Mit am stärksten betroffen war das Instrumententeam des Solar Wind Analyser (SWA). Der Sonnenwind, der ständig von der Sonne freigesetzt wird, besteht aus einer Mischung elektrisch geladener Teilchen, Ionen genannt, und Elektronen. Das SWA-Instrument umfasst drei verschiedene Sensoren zur Messung der Flüsse und der Zusammensetzung dieser verschiedenen Teilchenpopulationen. Jeder Sensor arbeitet als eine Art "elektrisches Periskop", das hohe Spannungen, in einem Fall bis zu 30 Kilovolt, verwendet, um die Sonnenwindteilchen in den Detektor umzulenken.

Aus Sicherheitsgründen entschied das Team, das Instrument erst etwa einen Monat nach dem Start einzuschalten. Dies war beabsichtigt, damit keine Spuren der Erdatmosphäre innerhalb der SWA-Sensoren verbleiben würden. Falls doch, hätten diese hohen Spannungen einen Lichtbogen verursachen und die Sensoren beschädigen können.

Der Einschaltvorgang für jeden der SWA-Detektoren ist langwierig, da jedes Hochspannungs-Subsystem in Schritten von nur 20 oder 50 Volt einzeln hochgefahren werden muss. Nach jeder Spannungserhöhung wird das Instrument überprüft, um sicherzustellen, dass nichts Unvorhergesehenes passiert ist.

Nachdem Christopher Owen vom Mullard Space Science Laboratory, University College London (MSSL/UCL), der leitende Wissenschaftler für SWA, Deutschland verlassen hatte, begannen er und sein Team, Pläne von ihrem Labor in Großbritannien aus für die Inbetriebnahme des Instruments zu entwickeln. Doch dann wurde der Lockdown für Großbritannien verkündet und führte dazu, dass fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Home-Office arbeiteten.

„Als ich das Labor verließ, schnappte ich mir ein paar Laptops und vier Bildschirme und nahm sie mit nach Hause. Dann habe ich meinen zweijährigen Sohn aus seinem Kinderzimmer ausquartiert und alles dort aufgestellt“, erzählt Christopher Owen. Nachdem das ESOC seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, arbeitete er von diesem provisorischen Kontrollzentrum aus der Ferne mit dem Rest des SWA-Teams, das über ganz Europa verstreut war, und der Notbesetzung in Darmstadt zusammen an der Inbetriebnahme des Instruments.

„Wir hatten ernsthafte Zweifel, ob wir so arbeiten könnten“, sagt Lodiot über den Prozess. „Aber wir haben das Beste daraus gemacht und am Ende funktionierte es sehr gut, weil sich alle im Team gut kannten.“

Bereit für die Wissenschaft

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Am 15. Juni 2020 kam Solar Orbiter der Sonne bis auf 77 Millionen Kilometer nahe
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Auch die anderen Instrumententeams haben ihre Inbetriebnahme erfolgreich abgeschlossen. „Dies ist zweifellos die erste Mission, deren Instrumente vollständig von Mitarbeitern im Home-Office in Betrieb genommen wurden“, erklärt David Berghmans vom Königlichen Observatorium von Belgien in Brüssel und leitender Wissenschaftler des Extreme Ultraviolet Imager (EUI).

Wir haben nicht nur unsere Arbeit erledigt, sondern auch die verlorene Zeit wieder aufgeholt und es geschafft, die Inbetriebnahme innerhalb des ursprünglichen Zeitplans abzuschließen. „Selbst unter normalen Umständen wäre ich sehr glücklich mit dem jetzigen Stand“, erklärt Daniel Müller, ESA-Projektwissenschaftler für Solar Orbiter. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass fast alles sofort einwandfrei funktionieren würde.“               

Dies beweist, dass die Raumsonde, unter Federführung von Airbus DS in Großbritannien, und die Instrumente von den verschiedenen Instrumententeams mit höchster Kompetenz gebaut worden sind. Am 25. Juni 2020 bestätigte das Solar Orbiter Review Board diese Leistung und erklärte die Überprüfung der Inbetriebnahme für erfolgreich abgeschlossen. Jetzt ist die Raumsonde bereit für die wissenschaftliche Phase der Mission.

Für César García Marirrodriga, den Projektleiter des Solar Orbiter der ESA, war es ein großer Moment, denn mit der Inbetriebnahme ist seine Arbeit getan und er übergibt das Raumfahrzeug an den Betriebsleiter der Mission. "Ich übergebe es sehr gerne, weil ich weiß, dass es in die richtige Richtung geht", sagt Marirrodriga.

Und für Daniel Müller ist es auch ein großer Moment, denn jetzt ist die Mission bereit für die Wissenschaft. „In diesen vier Monaten seit dem Start wurden die zehn Instrumente an Bord sorgfältig überprüft und eines nach dem anderen kalibriert – das ist in etwa so, als wenn Musikinstrumente einzeln gestimmt werden. Und jetzt ist es Zeit für einen gemeinsamen Auftritt“, sagt Daniel Müller.

Mitte Juni näherte sich Solar Orbiter mit einem Abstand von rund 77 Millionen Kilometern zum ersten Mal der Sonne. Bei diesem so genannten ersten Perihel ergab sich erstmals die Gelegenheit, alle Instrumente zusammen spielen zu lassen.

„Wir freuen uns sehr über dieses erste ‚Konzert‘. Zum ersten Mal werden wir in der Lage sein, die Bilder aller unserer Teleskope zusammenzusetzen und zu sehen, wie sie komplementäre Daten der verschiedenen Teile der Sonne aufnehmen, einschließlich der Oberfläche, der äußeren Atmosphäre – der sogenannten Korona – sowie der Heliosphäre um sie herum. Genau dafür wurde die Mission konzipiert“, erklärt Daniel Müller. Diese ersten Bilder werden Mitte Juli veröffentlicht.

100 Tage an Daten

The team behind Solar Orbiter's magnetometer in a Zoom meeting while running experiments on the instrument amid the COVID-19 lockdown
The team behind Solar Orbiter's magnetometer in a Zoom meeting while running experiments on the instrument amid the COVID-19 lockdown

Auch andere Instrumente sammeln bereits Daten. Im Falle des Magnetometers (MAG) wurde dieses bereits einen Tag nach dem Start erstmals eingeschaltet. "Wir haben während der Inbetriebnahme knapp 100 Tage an Daten erhalten, und es sind wunderbare Daten", sagt Helen O'Brien vom Imperial College und Chefingenieurin des MAG.

Das MAG wurde früh eingeschaltet, damit es Messwerte aufnehmen konnte, während es beim Ausfahren seines Auslegerarms vom Raumschiff weggetragen wurde. "Das Instrument verhielt sich wunderbar. Es war eindrucksvoll zu sehen, wie das Feld zerfiel, als wir uns vom Raumschiff entfernten", sagt Helen.

Diese Daten werden es dem Team ermöglichen, das vom Raumfahrzeug selbst erzeugte Magnetfeld zu verstehen, so dass sie es nun aus ihren wissenschaftlichen Daten entfernen können, und nur noch das Magnetfeld übrig bleibt, das von der Sonne weg ins All getragen wird. Und es gibt bereits eine Fülle von Daten. Das Team hat bereits mehr als zwei Milliarden wissenschaftliche Messungen zu analysieren. "Die Daten sind hervorragend, wirklich, wirklich gut, wir sind also sehr zufrieden", sagt Tim Horbury, leitender Forscher des Instruments vom Imperial College, Großbritannien.

Die Mission befindet sich nun weiter auf Kurs zur Sonne. Während dieser Reisephase werden die In-situ-Instrumente des Raumschiffs wissenschaftliche Daten über die Umgebung der Raumsonde sammeln, während die Fernerkundungsinstrumente von den Teams in Vorbereitung auf wissenschaftliche Einsätze in der näheren Umgebung der Sonne feinjustiert werden. Die Reisephase dauert bis November 2021, danach wird Solar Orbiter mit der wissenschaftlichen Phase seiner Mission beginnen.

 

[ANMERKUNGEN FÜR REDAKTEURINNEN UND REDAKTEURE]

Solar Orbiter ist eine ESA-geführte Mission mit starker Beteiligung der NASA. Zwölf ESA-Mitgliedsstaaten, darunter Großbritannien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, die Tschechische Republik, die Schweiz, Polen, Schweden, Österreich und Norwegen, nehmen an der Mission teil. Hauptauftragnehmer ist Airbus Defence and Space in Stevenage, Großbritannien. Solar Orbiter ist die erste Mission der "mittleren" Klasse, die im Rahmen des Programms "Cosmic Vision 2015-25", dem derzeitigen Planungszyklus für die wissenschaftlichen Weltraummissionen der ESA, durchgeführt wird. Die geschätzten Gesamtkosten der Mission in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro umfassen die Herstellung und Entwicklung des Raumfahrzeugs und der Nutzlast, die Trägerrakete der NASA sowie den Flugbetrieb über die nominale und verlängerte Lebensdauer von 10 Jahren.

Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:

ESA Media Relations
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