ESA-Bericht zur Weltraumumgebung 2023
In brief
Unser Planet ist von Raumsonden umgeben, die wichtige Aufgaben im Rahmen der Erforschung des Klimawandels, der Bereitstellung globaler Kommunikations- und Navigationsdienste und der Beantwortung wichtiger wissenschaftlicher Fragen übernehmen.
Jedoch sind einige ihrer Umlaufbahnen inzwischen zu voll und werden zunehmend von äußerst gefährlichen, sich rasch bewegenden Teilen ausgedienter Satelliten und Raketen überschwemmt, die unsere Zukunft im Weltraum bedrohen.
Im Jahr 2002 veröffentlichte das Inter-Agency Space Debris Coordination Committee (IADC) die Richtlinien zur Eindämmung des Weltraummülls. Die in den Richtlinien beschriebenen Maßnahmen legen fest, wie Weltraummissionen gestaltet, geflogen und entsorgt werden sollten, um die Entstehung von weiteren Trümmern zu verhindern. Sie waren ein wesentlicher Schritt für den Schutz unserer wichtigen Umlaufbahnen und dienen seit zwei Jahrzehnte als Grundlage für Raumfahrtpolitik, nationale Gesetzgebungen und technische Standards.
Das Space Debris Office der ESA veröffentlicht seit 2016 jedes Jahr einen Bericht über die aktuelle Lage im Weltraum, um einen transparenten Überblick über die weltweiten Weltraumaktivitäten zu bieten und zu ermitteln, wie gut diese und andere internationale Maßnahmen zur Verringerung von Weltraummüll die langfristige Nachhaltigkeit der Raumfahrt verbessern.
Nachfolgend findet sich ein Überblick über den Bericht für 2023.
Die Grundlagen
- Die Umgebung der Erdumlaufbahn ist eine begrenzte Ressource.
- Im Jahr 2022 wurden mehr Satelliten gestartet als in jedem Jahr zuvor.
- Die Anzahl und der Umfang der kommerziellen Satellitenkonstellationen in bestimmten, wirtschaftlich interessanten erdnahen Umlaufbahnen nehmen weiter zu.
- Am Ende ihrer Lebensdauer verlassen nicht genügend Satelliten diese stark überlasteten Umlaufbahnen.
- Bei Satelliten, die nach Ablauf ihrer Mission in ihrer operationellen Umlaufbahn verbleiben, besteht die Gefahr, dass sie in gefährliche Trümmerwolken zerbrechen, die viele Jahre lang in der Umlaufbahn verweilen.
- Aktive Satelliten müssen immer häufiger Kollisionsvermeidungsmanöver durchführen, um anderen Satelliten und Fragmenten von Weltraummüll auszuweichen.
- Trotz immer besserer Maßnahmen zur Eindämmung des Weltraummülls steigen die Anzahl neuer Satelliten und die Menge des vorhandenen Mülls. Unser Verhalten im Weltraum scheint deshalb auf lange Sicht nicht nachhaltig zu sein.
In-depth
Anhaltende Trends
Die Zahl der neu ins All gestarteten Satelliten nimmt jedes Jahr weiter zu
Im Jahr 2022 sind 2409 neue, nachverfolgbare 'Nutzlasten' (in erster Linie Satelliten) in eine Umlaufbahn um die Erde gebracht worden – mehr als jemals zuvor.
Die meisten neuen Satelliten fliegen auf ähnlichen Umlaufbahnen
Der Weltraum mag unvorstellbar groß sein, aber die wirtschaftlich wertvollen Regionen können erschreckend klein sein.
Die meisten der im letzten Jahr gestarteten Satelliten bildeten entweder neue kommerzielle Satellitenkonstellationen oder erweiterten bestehende kommerzielle Konstellationen in niedriger Erdumlaufbahn.
Diese Konstellationen werden zur Bereitstellung von Diensten wie der globalen Kommunikation ins All gebracht, aber nur bestimmte Umlaufbahnen sind für diese Zwecke geeignet.
Daher wäre eine Kollision oder Fragmentierung in diesen Umlaufbahnen für die übrigen Satelliten in ähnlichen Umlaufbahnen und für Satelliten oder bemannte Raumfahrzeuge, die diese Region unterwegs zu weiter entfernten Zielen passieren, katastrophal.
Diese Umlaufbahnen sind die gefährlichsten
Von den mehr als 30.000 derzeit identifizierten Weltraummüllteilen mit einer Größe von mehr als 10 cm befinden sich mehr als die Hälfte davon in einer niedrigen Erdumlaufbahn (unter 2.000 km).
Dies schließt keine Objekte ein, die noch nicht verfolgt wurden oder die derzeit zu klein für eine Nachverfolgung sind. Basierend auf ESA-Modellen dürfte die Gesamtzahl der Objekte in der Erdumlaufbahn, die größer als 1 cm sind, bei über einer Million liegen.
Allerdings ist es aufgrund zunehmender Starts wahrscheinlicher, dass ein durchschnittlicher Satellit in einer Umlaufbahn unter 600 km einem anderen Satelliten ausweichen muss, statt einem Trümmerteil.
Eine mögliche Kollision mit einem anderen in Betrieb befindlichen Satelliten lässt sich möglicherweise leichter vermeiden, da beide Objekte in der Regel manövrierfähig sind. Dies erfordert jedoch eine gute Koordination und einen Datenaustausch zwischen den Satellitenbetreibern, um Missverständnisse auszuschließen.
In größeren Höhen ist das Risiko stattdessen größer, mit einem Trümmerteil zu kollidieren, das bei einem der wenigen gut bekannten Ereignisse entstand.
Neue Erkenntnisse
Eine Rekordzahl von Objekten tritt wieder in die Erdatmosphäre ein
Im Jahr 2022 ist eine Rekordzahl an künstlichen Objekten aus dem All zur Erde zurückgekehrt. Der Grund dafür war eine große Anzahl von herabfallenden „Nutzlastfragmenten“, die größtenteils von einem Anti-Satellitentest in der Umlaufbahn stammten.
Allerdings konnte im letzten Jahr auch eine Rekordzahl an Wiedereintritten von Satelliten in die Erdatmosphäre verzeichnet werden.
Immer mehr Satelliten erfüllen die internationalen Richtlinien
Die steigende Zahl der Wiedereintritte muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Die effiziente Entsorgung von Satelliten ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Sicherheit in niedrigen Erdumlaufbahnen.
Nach den Richtlinien zur Eindämmung von Weltraummüll sollten Satelliten innerhalb von 25 Jahren nach Ende ihrer Nutzung die geschützten Umlaufbahnen verlassen. Die folgenden Grafiken zeigen die zunehmende Einhaltung dieser Richtlinien für verschiedene Satellitentypen. Die Einhaltung der Richtlinien bei frühen Satellitenkonstellationen war sehr gering, während die Einhaltung bei den in diesem Jahrzehnt gestarteten Satelliten fast 100 % beträgt.
Deshalb wird die Zahl der Wiedereintritte wahrscheinlich weiter steigen
Mehr als 80 % der Satelliten, die im Jahr 2022 als Teil einer Konstellation ins All gestartet wurden, wurden in Umlaufbahnen positioniert, aus denen sie innerhalb von weniger als zwei Jahren in Richtung Erde absinken werden, falls sie nicht mehr betriebsfähig sind oder sie ihren Antrieb verlieren. Die steigende Zahl von Satelliten, die wieder in die Erdatmosphäre eintreten, wird daher in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter zunehmen.
Die meisten Satelliten, die nicht in Konstellationen fliegen, werden in Umlaufbahnen gebracht, aus denen sie unbeeinflusst in weniger als 25 Jahren, dem in internationalen Richtlinien festgelegten Maximum, Richtung Erde sinken würden. Die Einführung dieser Richtlinien hat zu einer Verlagerung der Aktivitäten im Orbit auf niedrigere Höhen als noch vor 10 Jahren geführt.
Die meisten Wiedereintritte sind vorerst unkontrolliert
Die meisten Objekte treten jedoch unkontrolliert wieder ein: Sie werden am Ende ihrer Mission abgeschaltet und verglühen in der Erdatmosphäre.
Dadurch wird die Umlaufbahn von inaktivem Weltraummüll freigehalten, aber der Besitzer hat keine Kontrolle darüber, wo am Himmel das Objekt zerbricht und wo die verbliebenen Fragmente landen werden.
Die Fortschritte in der Technologie, die zunehmende Wiederverwendbarkeit und die Umsetzung und Einhaltung von Nachhaltigkeitsrichtlinien haben in letzter Zeit zu einer Zunahme der „kontrollierten Wiedereintritte“ von Raketenstufen geführt. Mit einem kontrollierten Wiedereintritt können die Betreiber ihre Ausrüstung schneller aus geschützten Regionen entfernen und haben eine größere Kontrolle über Ort, Zeit und Methode des Wiedereintritts - und sogar der Landung. Dafür muss nur etwas Treibstoff bereitgehalten werden.
Wenn die Richtlinien zur Eindämmung von Weltraummüll in den kommenden Jahren strenger werden, könnten die Satelliten geschützte Regionen schneller als bisher und auf noch sicherere Weise verlassen müssen. Eine der möglichen Lösungen besteht darin, den Satelliten so zu konstruieren, dass er am Ende seiner Mission einen kontrollierten Wiedereintritt durchführen kann.
Aber nur weil ein älterer Satellit nicht für einen kontrollierten Wiedereintritt in die Atmosphäre ausgelegt war, heißt das nicht, dass er unmöglich ist. Im Juli 2023 versuchten die Teams der ESA-Missionskontrolle im ESOC eine neue Art der Unterstützung für den Wiedereintritt eines älteren Satelliten, um diesen sicherer zu machen.
Die ESA-Teams führten den ersten „unterstützten Wiedereintritt“ dieser Art durch, als sie den Aeolus-Satelliten zum Verglühen über unbewohnten Regionen im Atlantik und in der Antarktis lenkten, obwohl der Satellit in den späten 1990er Jahren ohne die Absicht entwickelt wurde, ihn kontrolliert zurückzubringen.
Blick nach vorne
Der Weltraum wird immer nützlicher, wertvoller und sogar unverzichtbar für die moderne Gesellschaft. Aber wir müssen sicherstellen, dass wir nicht nur einen Nutzen aus der Umlaufbahn ziehen, sondern auch den Müll.
Große Weltraummüllteile stellen zwei Arten von Risiken dar: das kurzfristige Risiko, dass sie direkt mit einem aktiven Satelliten kollidieren, und das langfristige Risiko, dass sie in eine Wolke kleinerer Teile zerfallen, die einen Satelliten erheblich beschädigen können.
Selbst wenn wir von nun an nichts mehr ins All schießen würden, wären Kollisionen zwischen den bereits im Orbit befindlichen Trümmerteilen problematisch genug.
Langfristig könnte die zunehmende Weltraumaktivität zu einem „Kessler-Syndrom“ führen. In diesem Fall ist die Dichte der Objekte im Orbit so hoch, dass Kollisionen zwischen Objekten und Trümmern einen Kaskadeneffekt auslösen, bei dem jeder Zusammenstoß Trümmer verursacht, die dann die Wahrscheinlichkeit weiterer Kollisionen erhöhen. An diesem Punkt werden bestimmte erdnahe Umlaufbahnen nicht mehr nutzbar sein.
Was tun wir also dagegen?
Ausgehend von den Ergebnissen des jährlichen ESA-Berichts und anderer Studien besteht zunehmend Einigkeit darüber, dass wir strengere Maßnahmen zur Eindämmung des Weltraummülls brauchen.
Die ESA hat vor kurzem einen Zero Debris Approach, einen Ansatz zur kompletten Vermeidung von Raumfahrtrückständen, mit dem Ziel eingeführt, dass die Aktivitäten der ESA bis 2030 keinen neuen Weltraummüll in wertvollen Umlaufbahnen erzeugen.
Der Ansatz umfasst eine Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Politik der ESA, technologischen Fortschritten und dem Betrieb von Satelliten, die die Entstehung von Weltraummüll stark einschränken werden.
Für ältere Trümmerteile ist die einzige Lösung die „aktive Trümmerbeseitigung“. Die ESA hat die ClearSpace-1 Mission als Dienstleistung von dem Schweizer Start-up-Unternehmen Clearspace SA in Auftrag gegeben, um die für die aktive Trümmerbeseitigung erforderlichen Technologien zu demonstrieren. Dies ist ein erster Schritt zur Etablierung eines neuen und nachhaltigen kommerziellen Sektors, der sich der Beseitigung hochriskanter Objekte aus unseren wertvollen und begrenzten Weltraumbahnen widmet.
Wie schon beim Wiedereintritt von Aeolus, möchte die ESA beweisen, dass ein nachhaltigerer Ansatz möglich ist, selbst unter schwierigen Umständen. Die ESA hofft, dass sie durch ihre Vorreiterrolle andere Raumfahrtunternehmen und Hersteller zur Übernahme ähnlicher Maßnahmen zum Wohle aller überzeugen kann.
Erfahren Sie mehr: Den vollständigen ESA-Jahresbericht 2023 zur Weltraumumgebung lesen.