Wie man dicke Brocken vom Himmel holt
Mit der kontrollierten MIR-Rückführung bewies Russland erneut, dass es Orbitalstationen nicht nur starten und betreiben, sondern sie auch mit technischer Meisterleistung entsorgen kann. Über das "Wie" diskutierten internationale Experten auf dem "MIR-Deorbit-Workshop", der gestern beim European Space Operations Centre ESOC der ESA in Darmstadt unter der Leitung von Prof. Dr. Walter Flury stattfand.
Intensiv wurden die MIR-Vorgänge aus der Nachsicht analysiert, gilt es doch die Methoden des gesteuerten Wiedereintritts von großen Massen zu verfeinern. Denn auch die Internationale Raumstation ISS wird - wie MIR - in modularer Bauweise errichtet. Nur dreimal größer. Mit dem Aufbau stellt sich daher die Frage: Wie soll die ISS eines Tages entsorgt werden?
Planetarer Satellitenfriedhof
Russland und Amerika entsorgen seit Jahrzehnten einen Großteil ihrer Raumflugkörper erfolgreich in menschenleeren Gebieten unseres Planeten. Eines Planeten, der den Namen "Erde" trägt, aber eigentlich "Wasser" heißen müßte. Denn zwei Drittel der Oberfläche sind Wasser, nur ein Drittel ist Festland. Als menschenleerster Raum gilt der Pazifik. Hier befindet sich auch der planetare Satellitenfriedhof.
Ein Vergleich mag zur Größenvorstellung des Beerdigungsortes beitragen: Ein Raumschiff, das mit einer Geschwindigkeit von 28 000 Stundenkilometern in 400 km Höhe den Wasserplaneten umrundet, würde 25 Minuten allein für die Überquerung des Pazifik benötigen. Die Entsorgung der Nutzlasten vollzog sich bislang weitestgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, zumal die rückgeführten Massen unspektakulär bei wenigen Tonnen lagen. Nunmehr jedoch ging es um 140 Tonnen MIR-Masse.
98 Prozent Sicherheit
Szenarien zum Deorbit der MIR-Station erarbeiteten die russischen Experten bereits vor mehreren Jahren. Ihren Prognosen lag stets ein Sicherheitsfaktor von 98 bis 99 Prozent zugrunde. Eine Größenordnung, die angesichts der Masse von 140 t aufhorchen läßt. Hundertprozentige Sicherheit, das ist nicht erst seit dem Untergang der "unsinkbaren" Titanic bekannt, kann es nirgendwann und nirgendwo geben. Ein Restrisko bleibt immer. Dieses "Restrisiko" zu minimieren, war Aufgabe der russischen Experten von der Raumfahrtagentur Rosawiakosmos und vom Flugleitzentrum Koroljow bei Moskau. Sie sammelten gemeinsam mit internationalen Institutionen Bahnkontrolldaten und glichen diese ständig ab. Auf diese Weise konnte die Präzision des Deorbits und damit die Sicherheit wesentlich erhöht werden.
Hilfe und Unterstützung leisteten hierzu besonders das ESOC in Darmstadt, das NASA Johnson Space Center in Houston und der amerikanische Weltraumüberwachungsdienst. Wenn die MIR im Sichtfeld war, wurde die bei Bonn befindliche Radarstation FGAN der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften eingesetzt. Hier gelangen ausgezeichnete Radarbilder. Mit FGAN konnte das pfeilgerade Ausrichten der taumelnden MIR einen Tag vor dem Deorbit klar verfolgt werden. Radar-Unterstützung gab es auch von der französischen Raumfahrtagentur CNES in Toulouse. Die italienische Raumfahrtagentur ASI war durch ihr Rechenzentrum in Cnuce bei Pisa im MIR-Deorbit-Rennen vertreten.
Internationale Kooperation
In den MIR-Bulletins aus dem russischen Flugleitzentrum hieß es fast immer, dass alles "im nominellen Bereich" sei. Aber was bedeutete das? MIR befand sich im freien Fall. Auf deutsch: Die Gesetze der Himmelsmechanik wirkten. Newton und die Erdanziehung. Zwei Hauptstörgrößen verhinderten jedoch die Gleichmäßigkeit des Falls: der Sonnenwind sowie eine pulsierende, unterschiedlich stark ausgebildete Hochatmosphäre. Es galt also eine Vielzahl unbekannter und variabler Größen bei der Flugbahnbestimmung zu berücksichtigen. Hinzu kam die Bahnneigung. Bei 51,6 Grad könnten - theoretisch - alle Gebiete zwischen 51,6 Grad nördlicher und südlicher Breite als Absturzort in Frage kommen.
Bekanntermaßen entschieden sich die russischen Raumfahrtspezialisten für eine einfache und praxisnahe Deorbit-Lösung. Auf dem ESOC-Workshop berichteten hierzu die Experten aus Ost und West über ihre Vorausberechnungen des Wiedereintritts, die Nützlichkeit der Radar- und optischen Beobachtung des Orbitalkomplexes, die zum Absturz führenden Operationen, die Modellierung des Auseinanderbrechens der Station und die Risikoeinschätzung beim Auftreffen auf die Erde. Sie stellten ihre unterschiedlichen Methoden vor und verglichen ihre Prognosen mit den dann wirklich eingetroffenen Daten.
Superbrocken Internationale Raumstation
Der MIR-Deorbit-Workshop ist bereits der dritte Workshop, der sich mit der Thematik des Wiedereintritts von Raumflugkörpern in die Erdatmosphäre befasst. Nach dem Absturz der außer Kontrolle geratenen Saljut-7-Station im Jahre 1991, bei der auch Trümmerteile die feste Erdoberfläche erreichten, begann eine immer fester und intensiver werdende Zusammenarbeit der ESA und des ESOC mit Russland. In Anbetracht der Tatsache, dass sich nur eine kleine Gruppe von Experten mit dieser Thematik intensiv beschäftigt, entstand schnell eine weltweite, auf Vertrauen beruhende Zusammenarbeit, die ihren Höhepunkt beim MIR-Deorbit fand.
Die Workshop-Experten aus Russland, Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA sind sich einig: Die Risikoanalyse der kontrollierten Rückführung der 140 t schweren MIR-Station ist von unschätzbarem Wert. Denn auch für die ISS naht irgend wann einmal ein Verfallsdatum. Und dann muss der 500 t schwere ISS-Superbrocken rechtzeitig und effizient entsorgt werden.