Living Planet: Das Erderkundungsprogramm der ESA
Im Rahmen ihres Erderkundungsprogramms „Living Planet“ ist die ESA den globalen Umweltveränderungen auf der Spur. Earth-Explorer-Spezialsatelliten sollen gesicherte Daten über die in der Atmosphäre, in den Ozeanen sowie auf dem Festland ablaufenden Prozesse liefern. Diese Daten sind als Grundlage politischer Entscheidungen dringend notwendig. Ende Mai wird die ESA neue Missionen auswählen. Sechs Kandidaten stehen zur Auswahl.
Die Symptome sind eindeutig: Teile des Ökosystems Erde sind krank. Wie krank, darüber streiten die Gelehrten. Seit Jahrzehnten ist eine Zunahme klimawirksamer Spurengase in der Atmosphäre zu verzeichnen. Das Fatale daran ist: Die Prozesse vollziehen sich schleichend. Alle in die Atmosphäre eingegebenen Stoffe kommen irgendwann und irgendwo einmal zum Tragen. Aber wann, wo, mit welcher Intensität und mit welchen Folgen das geschieht, das ist aufgrund der Kompliziertheit und Komplexität von Klimaprozessen schwer verständlich. Und aufgrund der Rückkopplungen auch kaum vorhersehbar. Weil alles mit allem zusammenhängt.
Prognosen über die Zukunft des Weltklimas sind deshalb äußerst kompliziert. Es genügt nicht, einzelne Parameter zu erfassen und diese linear hochzurechnen. Vielmehr sind Modelle notwendig, die mit den neuen Messdaten immer wieder abgeglichen und modifiziert werden. Die großen Unsicherheiten liegen in gekoppelten Ozean-/Atmosphäre-Modellen sowie in den Rückkopplungsmechanismen einzelner Parameter. Ein Hauptproblem sind die Wolken. Werden sie den erwarteten anthropogenen Treibhauseffekt verstärken oder dämpfen? An solchen Unsicherheiten liegt es, dass bei gleicher Datenausgangsbasis die zu erwartenden globalen Temperaturerhöhungen modellabhängig um fast fünf Grad Celsius schwanken. Eine der Hauptforderungen der Umweltforscher besteht daher in der gesicherten Langfristigkeit und Kontinuität der Datengewinnung und -auswertung.
Europas Super-Späher im erdnahen Orbit
Die Europäische Weltraumorganisation ESA hat sich frühzeitig diesen Problemen angenommen und fährt ein zweigleisiges Programm. Sie realisiert die Wünsche der satellitengestützten Beobachtung, Erforschung und Überwachung des Ökosystems Erde und seiner Teilbereiche zum einen durch singuläre, extrem leistungsfähige Umwelt-Allroundsatelliten der Weltspitze, zum anderen durch das innovative und hochflexible Erderkundungsprogramm „Living Planet“.
1991 begann sie mit dem Satelliten ERS 1 ein höchst erfolgreiches globales sowie vielseitiges Erkundungsprogramm, dem 1995 der weltbeste – noch im Betrieb befindliche – Ozonwächter ERS 2 sowie 2002 die fliegende Umweltstation Envisat folgten.
Envisat baut auf die Erfahrungen von ERS auf. Der um mehrere Klassen leistungsfähigere Satellit liefert Daten über die globale Erwärmung, den Abbau von Ozon und den Klimawandel. Als weltgrößte Schaltstelle für Klimaüberwachung ist er den Umweltveränderungen auf der Spur.
Großsatelliten wie ERS und Envisat haben mit ihrem umfangreichen Instrumentarium einen entscheidenden Vorteil: Die Wissenschaftler erhalten miteinander vergleichbare Daten, die die Voraussetzung für das Erkennen von Prozessabläufen auf der Erde darstellen.
Envisat ist extrem leistungsfähig. Er darf neidlos den Superlativ von der „gigantischsten Mission zum Planeten Erde“ für sich in Anspruch nehmen. Envisat wird aber in Bezug auf seine mehr als zehnjährige Entwicklungszeit, seine Größe von 25 x 7 x 10 m und seine Gesamtkosten von etwa 2,3 Mrd. Euro auf lange Zeit eine Ausnahmestellung behalten.
Die neuen Earth-Explorer-Satelliten
Um zukünftig schneller auf neue Erkenntnisse der Wissenschaft sowie auf gesellschaftspolitische Anforderungen reagieren zu können, hat die ESA 1998 das Programm „Living Planet“ ins Leben gerufen. Es sieht für die nächsten Jahre den Start einer größeren Zahl von Erdbeobachtungssatelliten vor, die deutlich kleiner, spezialisierter und kostengünstiger als ihre Vorgänger ausfallen werden.
Die ESA-Planer unterscheiden dabei zwischen Kern- (Core-) und Ergänzungsmissionen (Opportunity). Die Core-Explorer-Satelliten verkörpern große, komplexe Forschungsmissionen unter Federführung der ESA, bei denen neuartige Geräte und Verfahren zum Einsatz kommen. Der zur Verfügung stehende Kostenrahmen liegt pro Mission bei mehreren Hundert Millionen Euro.
Demgegenüber stehen die Opportunity-Forschungsmissionen. Sie sind kleiner und sehen eine stärkere Beteiligung der Industrie vor. Zum Einsatz kommen überwiegend ausgereifte und bereits verfügbare Technologien, wodurch eine schnellere und kostengünstigere Umsetzung der Projekte ermöglicht wird. Der zur Verfügung stehende Kostenrahmen liegt pro Mission bei etwa 110 Mill. Euro.
Erste konkrete Objekte
Aus 27 Projekten wählte die ESA 1999 die ersten beiden Opportunity-Missionen aus: den Eisforschungssatelliten CryoSat (Start ca. Dezember 2004) sowie den Satelliten SMOS (Start 2007). Letzterer soll den Salzgehalt der Meere und die Bodenfeuchte der Festlandareale bestimmen.
Im gleichen Jahr – 1999 – erfolgte auch die Auswahl der ersten beiden Core-Satellitenmissionen: GOCE zur Bestimmung des Schwerefelds der Erde (Start 2006) sowie ADM-Aeolus zur Erfassung der Dynamik der Erdatmosphäre (Start 2007).
Im Mai 2002 beschloss der ESA-Programmrat für Erdbeobachtung zusätzlich Durchführbarkeitsstudien für drei weitere Projekte. Sie sollen als Opportunity-Missionen andere Forschungsvorhaben ergänzen. Es handelt sich hierbei um die Mission ACE+ zur Erforschung der Atmosphäre und des Klimas, den Satelliten EGPM als europäischen Beitrag zum internationalen Projekt für globale Niederschlagsmessungen sowie um SWARM, eine Konstellation von mehreren Kleinsatelliten zur Untersuchung der Dynamik des Erdmagnetfelds.
Neue Auswahlrunde Ende Mai
Ende Mai 2004 steht nun die nächste Auswahlrunde an. Nach dem Durchlaufen verschiedener Auswahlverfahren gehen nunmehr sechs Kandidaten in das aktuelle Rennen.
Drei Kandidaten sind bereits bekannt. Es handelt sich hierbei um jene Missionen, für die im Mai 2002 Durchführbarkeitsstudien beauftragt worden sind: ACE+, EGPM sowie SWARM. Neu hinzu gekommen sind:
- EarthCARE (Earth Clouds, Aerosols and Radiation Explorer)
- SPECTRA (Surface Processes and Ecosystem Changes Through Response Analysis)
- WALES (Water Vapour Lidar Experiment in Space)
Um ein Meinungsbild von den Nutzern der zukünftigen Earth-Explorer-Missionen zu bekommen, hatte die Europäische Weltraumorganisation im April zu einer Konferenz in ihre italienische Niederlassung ESRIN nach Frascati eingeladen. Das 20 km südlich Roms gelegene ESRIN stellt ein Multifunktionszentrum der ESA für Aufgaben der Erdbeobachtung dar. Hier werden u.a. Aufnahmen und Daten der Fernerkundungssatelliten der ESA, aber auch der anderer Organisationen und Staaten ausgewertet und an die weltweiten Nutzer weitergegeben.
Bei dem zweitägigen Meeting standen die wissenschaftlichen Aspekte der sechs Missionen im Mittelpunkt. Einar-Arne Herland, ESA-Bereichsleiter für Geowissenschaften, wies auf die unterschiedliche Gewichtung der dabei angesprochenen Gesichtspunkte hin: „Natürlich sind auch technologische und finanzielle Aspekte diskutiert worden. Wichtiger erschien jedoch den Teilnehmern die führende Stellung Europas in der Erderkundung durch herausragende Missionen mit exzellenter Grundlagenforschung weiter auszubauen.“