Luca Parmitano: EVA 23 - Grenzen ausloten
Der nachfolgende Text ist die Übersetzung des packenden Blogposts von Luca Parmitano über seinen frühzeitig beendeten ISS-Aussenbordeinsatz am 16. Juli 2013.
Ich habe die Augen geschlossen. Ich höre Chris, wie er den fallenden Luftdruck in der Schleuse abliest - er liegt schon fast bei null. Von Müdigkeit jedoch keine Spur - im Gegenteil! Jede Faser meines Körpers ist angespannt, als ob Strom anstelle von Blut durch meine Adern fließen würde. Ich möchte alles genau mitbekommen, mich später an alles erinnern können. Ich bereite mich im Geist schon einmal darauf vor, die Luke zu öffnen, denn dieses Mal werde ich als Erster aussteigen. Es ist Nacht, und das ist vielleicht ganz gut: So droht weniger Ablenkung.
Die Vollständige Abwesenheit jeglichen Lichts
Bei 0,03 bar drehe ich den Griff und öffne das Schott. Draußen herrscht pechschwarze Nacht, nicht einfach nur Dunkelheit, sondern die vollständige Abwesenheit jeglichen Lichts. Völlig gebannt von dem Anblick, greife ich nach den Sicherheitsleinen. Ich bin ganz locker, drehe mich zur Seite, damit Chris vorbei kann.
In wenigen Sekunden checken wir uns gegenseitig durch und trennen uns. Auch wenn wir beide mehr oder weniger zum selben Teil der ISS müssen, nehmen wir völlig unterschiedliche Routen und gehorchen dabei einem Ablaufplan, den wir bis ins kleinste Detail verinnerlicht haben.
Ich nehme den direkten Weg zum hinteren Teil der Station, während Chris zunächst zum vorderen Bereich muss, um seine Sicherheitsleine dort um Z1 zu wickeln, dem mittleren Auslegersegment über Knoten 1. Zu diesem Zeitpunkt hat niemand von uns - ob in der Umlaufbahn oder auf der Erde - auch nur den Hauch einer Ahnung davon, welchen Einfluss diese Entscheidung auf den weiteren Verlauf und die Ereignisse dieses Tages haben wird.
Auf dem Weg zu der Schutztasche, die wir letzte Woche draußen zurückgelassen haben, achte ich auf jede Bewegung. Ich hüte mich davor, meine Lockerheit in unangemessene Entspannung umschlagen zu lassen. In der Tasche befinden sich die Kabel, die ich für die vielleicht schwierigste Aufgabe dieses Tages brauche: Ich soll sie mit den Buchsen außen an der Station verbinden und sie darüber hinaus mit dünnen Metalldrähten an der Außenhülle verankern. Für beide Aufgaben benötige ich meine Finger, und aus Erfahrung weiß ich, dass diese Tätigkeit wegen der Druckhandschuhe sehr ermüdend ist.
40 Minuten vor dem Plan
Chris hat das erste Kabel letzte Woche bereits teilweise angeschlossen, deshalb greife ich nach dem noch nicht angeschlossenen Teil und führe ihn vorsichtig in Richtung Buchse. Nach kleineren Startschwierigkeiten melde ich Houston, dass ich diese Aufgabe abgeschlossen habe und mich an das zweite Kabel machen kann. Ich greife das nächste Kabel und bewege mich dann in die wohl schwierigste Arbeitsposition auf der ganzen Station:
Ich bin regelrecht zwischen drei Modulen eingeklemmt, und mein Visier und mein PLSS (mein Lebenserhaltungssystem-Rucksack) sind nur wenige Zentimeter von der Außenhülle von Knoten 3, Knoten 1 und dem Labor entfernt. Mit viel Geduld und einiger Mühe kann ich ein Ende des zweiten Kabels an der Buchse befestigen. Dann befreie ich mich aus meiner unbequemen Arbeitsposition, indem ich mich blind nach hinten bewege. Shane meldet mir von der Bodenstation, dass ich fast 40 Minuten vor Plan liege, und auch Chris schneller vorangekommen sei als geplant.
Unangenehme Überraschung: Wasser
Gerade als ich überlege, wie ich das Kabel sauber abwickeln kann (in der Schwerelosigkeit bewegt es sich wie besessen hin und her), „fühle“ ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Das unerwartete Gefühl von Wasser in meinem Nackenbereich überrascht mich - und ich halte mich an einem Ort auf, an dem Überraschungen nur sehr selten etwas Gutes bedeuten.
Ich bewege meinen Kopf nach rechts und links, und mein erster Eindruck bestätigt sich. Mit schier übermenschlicher Anstrengung zwinge ich mich, Houston über meine Wahrnehmung zu informieren - ich weiß, dass dies das Ende unseres Außeneinsatzes bedeuten kann. Shane bestätigt meine Meldung von der Bodenstation aus und bittet mich, auf weitere Anweisungen zu warten. Chris ist gerade fertig geworden und immer noch in der Nähe. Er kommt auf mich zu und versucht auszumachen, wo das Wasser in meinem Helm herkommt.
Zunächst sind wir beide davon überzeugt, dass Wasser durch den Trinkhalm meiner Flasche getropft sein muss oder ich vielleicht geschwitzt habe. Aber meiner Meinung nach fühlt sich die Flüssigkeit für Schweiß viel zu kühl an, außerdem wird es immer mehr. Auch aus dem Trinkventil sehe ich kein Wasser fließen. Das sage ich auch Chris und Shane, und wir erhalten sofort den Befehl zur „Beendigung“ des Einsatzes.
Die zweite Möglichkeit, der „Abbruch“, ist für schwerwiegendere Probleme vorgesehen. Ich soll zurück zur Luftschleuse. Gemeinsam beschließen wir, dass Chris alle Teile im Außenbereich sichern soll, bevor er sich zur Schleuse begibt, das heißt, dass er zunächst zum vorderen Bereich der Station muss. Daher trennen wir uns.
Zurück in die Raumstation!
Auf dem Rückweg zur Luftschleuse wächst meine Gewissheit, dass es immer mehr Wasser wird. Ich fühle, wie es in den Schaumstoff meiner Kopfhörer eindringt und frage mich, ob ich die Sprechverbindung verlieren werde.
Das Wasser bedeckt inzwischen bereits fast mein komplettes Visier, haftet daran und behindert meine Sicht. Mir wird bewusst, dass ich eine aufrechte Position einnehmen muss: Zum einen, um eine Antenne überwinden zu können, die auf meinem Weg liegt, und zum anderen, damit meine Sicherheitsleine sich richtig aufwickeln kann. Als ich mich in den „Kopfstand“ drehe, passiert zweierlei: Die Sonne geht unter, und meine Sicht, die zuvor bereits vom Wasser beeinträchtigt war, verdunkelt sich völlig, so dass mir meine Augen nichts mehr nützen.
Noch schlimmer ist jedoch, dass das Wasser nun in meine Nasenlöcher eindringt, ein wirklich schreckliches Gefühl. Und durch meine vergeblichen Versuche, das Wasser durch Kopfschütteln wieder los zu werden, wird alles noch schlimmer. Das Helmoberteil ist jetzt voll Wasser, und ich weiß nicht, ob ich beim nächsten Atemzug meine Lungen mit Luft oder Flüssigkeit fülle.
Zu allem Überfluss merke ich, dass ich nicht mehr weiß, in welcher Richtung die Luftschleuse eigentlich liegt. Ich kann nur wenige Zentimeter weit sehen, und das reicht noch nicht einmal, um die Handgriffe ausmachen zu können, an denen wir uns entlang der Station bewegen.
Ich bin allein!
Ich versuche, Chris und Shane zu rufen: Ich höre sie miteinander sprechen, aber ihre Stimmen sind jetzt sehr schwach: Ich kann sie kaum hören, und sie können mich nicht hören. Ich bin allein. Fieberhaft denke ich nach. Es ist überlebenswichtig, so schnell wie möglich in die Station zu gelangen. Wenn hier bleibe, wird Chris mich holen kommen, aber wie viel Zeit bleibt mir noch? Schwer zu sagen.
Dann erinnere ich mich an meine Sicherheitsleine. Ihr Aufrollmechanismus „zieht“ mich mit einer Kraft von etwa anderthalb Kilo nach links. Das ist nicht viel, aber eine bessere Idee habe ich nicht: Immer an der Sicherheitsleine entlang, bis zur Luftschleuse. Ich zwinge mich zur Ruhe, taste geduldig nach den Handgriffen, setze mich in Bewegung, während ich darüber nachdenke, wie ich das Wasser loswerde, wenn es mir bis zum Mund steigt.
Meine einzige Idee: Das Sicherheitsventil in der Nähe meines linken Ohrs öffnen. Durch kontrolliertes Druckablassen dürfte ich ein bisschen Wasser loswerden, bis es durch Sublimation gefriert und die Öffnung verstopft. Aber ein „Loch“ in meinen Raumanzug zu machen wäre der letzte Ausweg.
Eine gefühlte Ewigkeit lang taste ich mich durch das Dunkel (auch wenn es tatsächlich nur ein paar Minuten sind). Schließlich sehe ich zu meiner großen Erleichterung durch die Wassertropfen hindurch den Wärmeschutzdeckel der Luftschleuse: Gleich bin ich in Sicherheit. Eine meiner letzten Anweisungen lautete, nicht auf Chris zu warten und sofort in die Station zurück zu kehren. Dem Protokoll zufolge hätte ich die Luftschleuse eigentlich als Letzter betreten müssen, da ich sie als Erster verlassen hatte.
Aber weder Chris noch ich haben ein Problem damit, diese Reihenfolge zu ändern. Ich ziehe mich mit geschlossenen Augen hinein, manövriere mich in die richtige Position und warte auf Chris. Ich spüre Bewegungen in meinem Rücken;
Chris kommt in die Schleuse, und an den Vibrationen merke ich, dass er die Luke schließt. In diesem Moment schaltet sich Karen in die Kommunikation ein, und aus irgendeinem Grund kann ich sie ziemlich gut hören. Aber sie hört mich nicht, denn sie wiederholt meine Anweisungen, obwohl ich bereits geantwortet habe. Ich folge Karens Anweisungen so gut ich kann, doch als der Druckausgleich beginnt, verliere ich jeglichen Sprechkontakt. Das Wasser ist mittlerweile auch in meine Ohren eingedrungen, und ich bin völlig von der Außenwelt abgeschnitten.
Ein Händedruck: Ok!
Ich versuche, mich möglichst wenig zu bewegen, damit das Wasser nicht in meinem Helm umher schwappt. Ich berichte weiter über meinen Gesundheitszustand, sage, dass es mir gut geht und der Druckausgleich weitergehen kann. Jetzt, da Luft in die Schleuse einströmt, weiß ich, dass ich den Helm jederzeit öffnen kann, sollte das Wasser höher steigen. Wahrscheinlich würde ich dann zwar bewusstlos werden, aber immer noch besser, als im eigenen Helm zu ertrinken. Irgendwann spüre ich durch meinen Handschuh hindurch einen Händedruck von Chris, und ich erwidere dieses universelle OK-Zeichen. Er hatte meine Stimme zum letzten Mal gehört, bevor wir uns in die Luftschleuse begaben!
Der Druckausgleich dauert endlose Minuten, und schließlich sehe ich mit grenzenloser Erleichterung, wie das Innenschott aufgeht und das ganze Team bereitsteht, um zu helfen. Sie ziehen mich hinaus, Karen öffnet so schnell wie möglich meinen Helm und hebt ihn vorsichtig über meinen Kopf. Fjodor und Pawel geben mir sofort ein Handtuch, und ich danke ihnen, ohne ihre Worte zu hören, denn meine Ohren und meine Nase sind die nächsten Minuten noch immer voll Wasser.
Der Weltraum ist eine raue und ungastliche Grenze unseres Lebensraums - und wir sind Entdecker, keine Siedler. Dank unserer Ingenieurkunst und der Technik um uns herum erscheinen Dinge einfach, die es in Wahrheit nicht sind, und das vergessen wir manchmal.
Wir tun gut daran, uns das immer vor Augen zu halten!
ESA-Astronaut Luca Parmitano, Bordingenieur der Expeditionen 36 und 37, lebt und arbeitet seit Mai 2013 auf der Internationalen Raumstation ISS. Seinen zweiten Aussenbordeinsatz, EVA (Extra Vehicular Activity) 23, musste er aufgrund von unvorhergesehen Problemen vorzeitig beenden.
Luca bloggt in englischer und italienischer Sprache von der ISS unter http://blogs.esa.int/luca-parmitano. Auf Twitter ist er unter @astro_luca zu finden.