Grönlands Eis schmilzt schneller als erwartet
Einer neuen wissenschaftlichen Untersuchung zufolge nimmt Grönlands massiver Eisschild siebenmal schneller ab als in den 90er Jahren. Zu dem Ergebnis kam eine Studie, die gestern in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde und an der 89 Polarwissenschaftler gemeinsam mit der ESA und NASA gearbeitet haben. Das Forschungsteam hat damit das bisher umfangreichste Bild des grönländischen Eisverlusts erstellt.
Das Forschungsteam hat mit Hilfe von Beobachtungsdaten aus drei Jahrzehnten eine Schätzung zur Massenbilanz des grönländischen Eisschildes erstellt.
Den Ergebnissen zufolge hat Grönlands Eisverlust zwischen 1992 und 2018 den weltweiten Meeresspiegel bereits um 10,6 Millimeter steigen lassen. Insgesamt seien in diesem Zeitraum 3,8 Billionen Tonnen Eis geschmolzen. Im gesamten Untersuchungszeitraum hat sich die Eisverlustquote versiebenfacht: während die jährliche Eisverlustquote in den 90er Jahren bei 33 Milliarden Tonnen lag, liegt die Eisverlustquote in den letzten zehn Jahren bereits bei 254 Milliarden Tonnen pro Jahr.
Das Team um Andrew Shepherd von der University of Leeds (GB) und Erik Ivins vom Nasa Jet Propulsion Laboratory in Pasadena (USA) verglich und kombinierte Daten von 11 Satelliten, um die Höhe der Gletscher, ihre Fließgeschwindigkeit und Schwerkraft zu messen. Miteinbezogen wurden auch Daten der ESA-Missionen ERS-1, ERS-2, Envisat und CryoSat sowie der Copernicus-Missionen Sentinel-1 und Sentinel-2.
"Satellitenbeobachtungen belegen, wie schnell das grönländische Eisschild auf Umweltveränderungen reagiert und Masse verliert. Dieser Umstand ist äußerst besorgniserregend. Der globale Anstieg des Meeresspiegels, der durch das schmelzende Eisschild verursacht wird, kann nicht rückgängig gemacht werden", so Marcus Engdahl (ESA), Mitverfasser der Studie.
Frühere satellitengestützte Studien haben gezeigt, dass die Eisschilde Grönlands und der Antarktis in den letzten Jahrzehnten zu einem globalen Meeresspiegelanstieg beigetragen haben. Die jüngste Studie bündelt die verfügbaren Daten und liefert einen Konsens über den Eisverlust Grönlands, so dass genauere Prognosen über den künftigen Meeresspiegelanstieg möglich sind.
Küstenüberschwemmungen als Folge
Da die Küstengebiete zu den am dichtesten besiedelten Gebieten gehören, werden die Ergebnisse nicht nur den Gemeinden bei der Vorbereitung helfen. Sie verdeutlichen auch, dass die Treibhausgasemissionen weltweit dringend reduziert werden müssen.
Der Weltklimarat (IPCC) prognostizierte in seinem letzten großen Gutachten einen Anstieg des globalen Meeresspiegels um 60 Zentimeter bis 2100. Das bedeutet, dass 360 Millionen Menschen jährlich von Küstenüberschwemmungen bedroht sind. Die unerwartet hohe Rate des IMBIE-Teams zeigt, dass der Eisverlust dem Worst-Case Klimaszenario des Weltklimarats entspricht. Demnach wird der Meeresspiegel voraussichtlich um weitere sieben Zentimeter ansteigen.
Prof. Shepherd: "Als Faustregel gilt, dass mit dem Anstieg des globalen Meeresspiegels um jeden Zentimeter weitere sechs Millionen Menschen auf der ganzen Welt Küstenüberschwemmungen ausgesetzt sind. Aktuellen Trends zufolge wird die Eisschmelze in Grönland bis zum Ende des Jahrhunderts dazu führen, dass jedes Jahr 100 Millionen Menschen von Überschwemmungen betroffen sein werden. Der Meeresspiegelanstieg betrifft damit insgesamt 400 Millionen Menschen.“
"Es handelt sich hierbei nicht um unwahrscheinliche Ereignisse oder kleine Auswirkungen; sie passieren tatsächlich und sind verheerend für die Küstenbewohner."
Mit Satellitendaten den Klimawandel messen
Das Team konnte durch Satellitenmessungen und regionalen Klimamodellen zeigen, dass knapp über die Hälfte des Eisverlustes auf das Abschmelzen an der Eisoberfläche und abfließendes Schmelzwasser zurückzuführen ist. Die übrigen Einbußen sind das Ergebnis von der zunehmenden Fließgeschwindigkeit der Gletscher, ausgelöst durch steigende Meerestemperaturen.
Im Jahr 2011 erreichten die Eisverluste einen Höchststand von 335 Milliarden Tonnen pro Jahr - bis 2018 sank dieser Wert auf durchschnittlich 238 Milliarden Tonnen pro Jahr. Dennoch sind die Werte siebenmal höher geblieben als in den 90er Jahren.
"Die unterschiedliche Natur der Eisverluste in Grönland in den letzten drei Jahrzehnten ist eine Folge der vielfältigen physikalischen Prozesse, die verschiedene Bereiche des Eisschildes betreffen. Wir ziehen großen Nutzen aus der Beobachtung jährlicher Schwankungen, wenn wir versuchen, den globalen Meeresspiegel-Haushalt zu schließen", so Prof. Shepherd.
Josef Aschbacher, Direktor des Erdbeobachtungsprogramms der ESA: "Die Ergebnisse des IMBIE veranschaulichen die grundlegende Bedeutung von Satelliten für die Überwachung der Eisschilde und die Bewertung und Verfeinerung der Modelle um die Auswirkungen des Klimawandels vorherzusagen."
"Die Treibhausgasemissionen steigen immer noch, sie sinken nicht. Wir lassen zu, dass nachfolgende Generationen mit immer schwerwiegenderen Folgen des Klimawandels konfrontiert werden, wie z.B. dem steigenden Meeresspiegel. Die ESA misst den Wandel und betont die Notwendigkeit, das international vereinbarte Ziel zu erreichen, den Treibhauseffekt auf 1,5°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen".
IMBIE wird durch die ESA-Programme EO Science for Society und die ESA Climate Change-Initiativeunterstützt, die präzise und langfristige satellitengestützte Datensätze für 21 wesentliche Klimavariablen generieren, um die Entwicklung auf der Erde zu beschreiben.