2. Die Europäische Lösung
Das ATV-Programm wurde auf der ESA-Ministerratssitzung im Oktober 1995 in Toulouse beschlossen. Es ist ein wesentlicher Beitrag Europas an der ISS, zu dem als weitere Hauptelemente gehören: das Forschungslabor Columbus, die Verbindungsknoten 2 (Modul Harmony) und 3 (Node 3), der kuppelförmige Beobachtungsturm Cupola, dessen Fenster einen Panoramablick in den Weltraum erlauben, der Europäische Roboterarm ERA und das Datenmanagementsystem DMS-R.
Das ATV-Projekt ist zugleich ein gutes Tauschgeschäft, denn die anteiligen Betriebskosten, die Europa an das ISS-Programm für den Betrieb der Raumstation, die Durchführung von Experimenten und den Aufenthalt seiner Astronauten sonst zahlen müsste, werden mit den von Europa gelieferten Teilen und den Transportleistungen des ATV verrechnet. So kann Europa Sachleistungen einbringen, die in der Alten Welt erdacht, entwickelt und umgesetzt werden. Das sichert Arbeitsplätze und bringt Knowhow in Europa.
Warum ATV?
Die ISS ist unbestritten das größte außerirdische Bauprojekt und eine gigantische Herausforderung der Ingenieure. Mit der stetig wachsenden Zahl an Raumfahrern – ab Mai 2009 wird sich die Einwohnerzahl der ISS-Forschungsstation dauerhaft auf sechs erhöhen – ist das ATV als logistisches Versorgungsschiff für die Raumstation von allergrößter Bedeutung. Es dient als Frachtschiff fester, flüssiger und gasförmiger Stoffe, als Aufbewahrungsraum sowie als Schleppfahrzeug zum Korrigieren der Umlaufbahn, in dem sich die ISS bewegt.
Der multifunktionale Weltraumfrachter ATV bietet eine dreimal höhere Nutzlastkapazität als sein russisches Gegenstück, Progress M, und kann damit sowohl von der Masse als auch von den Ausmaßen her wesentlich größere Stücke zur Station befördern, als Progress. Mit diesen Fähigkeiten nimmt er „als Schwerlasttransporter eine unverzichtbare Funktion für die ISS ein, wenn das Space Shuttle aus dem Verkehr gezogen wird“, betont Alan Thirkettle, ISS-Programmleiter der ESA.
Das Kopplungssystem: Made in Russia
Eine Schlüsselbaugruppe stellt das komplizierte Kopplungssystem dar. Raumfahrzeuge im All miteinander zu koppeln, haben bisher nur Russland und die USA erfolgreich demonstriert. Dass dieser Vorgang nicht trivial ist, mussten die Techniker beider Nationen schmerzlich erfahren. Zahlreiche Fehlschläge in den sechziger und siebziger Jahren zeugen davon.
Was lag also näher, als die wertvollen Erfahrungen für das ATV-Projekt zu nutzen. Aufgrund der Aufgabenstellung war klar, dass eine Kopplung nur mit dem russischen Swesda-Modul der Internationalen Raumstation in Frage kommen kann. Damit erschien es wiederum sinnvoll, auf eine eigene kostspielige Entwicklung des Dockingsystems zu verzichten und stattdessen auf das bewährte russische Kopplungssystem zurückzugreifen, dass Raumfahrzeuge wie Sojus und Progress seit Jahrzehnten erfolgreich nutzen.
In einem Tauschabkommen wurde daraufhin mit den russischen Partnern im Mai 1996 vereinbart, das die ESA die Bordrechner für das Swesda-Modul zur Verfügung stellt – das Data-Management-System DMS-R – und im Gegenzug das russische Kopplungssystem erhält.
Ein internationales Produkt
Industrieller Hauptauftragnehmer des ATV ist ein Konsortium unter Führung des europäischen Luft- und Raumfahrtunternehmens EADS Space Transportation. Die Entwicklung des ATV-Raumschiffes begann 1998. Damals ahnte kaum jemand, dass sich das von Europa betretene Neuland um Klassen komplexer erwies.
Neben dem eigentlichen Raumtransporter, der an den EADS-Standorten Les Mureaux sowie Bremen entwickelt und gebaut worden ist, beinhaltet das ATV-Programm auch verschiedene Test- und Trainingseinrichtungen sowie die Errichtung des Kontrollzentrums in Toulouse.
Ein derart komplexes Raumfahrzeug erfordert jedoch die Mitwirkung zahlreicher hoch spezialisierter Zulieferer, die Baugruppen, Sensoren, Antriebs- und Steuersysteme, Elektronik oder spezielle Materialien in das Gesamtprodukt einbringen. Dreißig Firmen aus zehn europäischen Ländern sind an der Fertigung wesentlicher Teile von ATV beteiligt. Weitere wichtige Baugruppen kommen von acht Unternehmen Russlands und den USA.
Insgesamt stecken eine zehnjährige Entwicklungszeit, die Arbeit von 1600 Ingenieuren und Technikern aus zehn europäischen Ländern sowie aus Russland und den USA Prototypen bis zum Flug von „Jules Verne“ im ATV.