Das Gleichgewicht des Menschen: Wo ist oben?
Wissenschaftler der Berliner Charité haben in Zusammenarbeit mit der ESA in einem fünfjährigen Langzeitexperiment das Zusammenspiel von Auge und menschlichem Gleichgewichtssystem ins Visier genommen. Das ISS-Experiment soll Aufschlüsse darüber liefern, ob und wie sich das Gleichgewichts- und Orientierungssystem in der Schwerelosigkeit verändert.
Als Versuchspersonen standen sowohl Kurz- als auch Langzeitraumfahrer von ESA und Roskosmos zur Verfügung, die zwischen 2004 und 2008 an Bord der ISS arbeiteten. Da man ihnen nicht direkt „in den Kopf“ schauen konnte, um Veränderungen zu beobachten, bedienten sich die Forscher um Andrew Clarke vom Labor für experimentelle Gleichgewichtsforschung an der Berliner Charité eines wissenschaftlichen Kniffs: Sie untersuchten die Augenbewegungen der Astronauten.
Evolutionärer Reflex hilft Gleichgewichtsforschung
Vestibularapparat und Augen sind bei Mensch und Tier evolutionsbedingt eng verschaltet. Eine Bewegung des Kopfes melden die Schwerkraftsensoren im Innenohr sofort ans Gehirn. Binnen Millisekunden geht dann ein unwillkürliches Nervensignal an die Augen, die sich automatisch in die entgegengesetzte Richtung bewegen. Dieser „vestibulo-okuläre Reflex“ war für die räumliche Orientierung entwicklungsgeschichtlich überlebensnotwendig. „Nur so konnten Tiere in Bewegung Beute und Jäger im Auge behalten“, erläutert Andrew Clarke.
Diesen Reflex nutzten die Wissenschaftler für das Langzeitexperiment auf der ISS: Über die Messung der kompensatorischen Augenbewegungen wollten sie Funktion und Veränderungen des Gleichgewichtssystems der Astronauten analysieren.
Das Experiment
Die Berliner Forscher haben speziell zu diesem Zweck das „Eye Tracking Device“ (ETD) entwickelt, ein portables Hightech-Gerät zur Messung der Augenbewegungen. Das weltraumqualifizierte ETD wurde zunächst auf Parabelflügen unter Schwerelosigkeitsbedingungen erprobt. Im April 2004 brachte der niederländische ESA-Astronaut André Kuipers dann ein ETD-System im Rahmen der DELTA-Mission zur ISS, wo es für das Langzeitexperiment der Gleichgewichtsforscher eingesetzt wurde. Die versuchsbeteiligten Astronauten mussten in mehreren Sitzungen vorgegebene Kopf- und Blickbewegungen ausführen. Dabei zeichnete das ETD die Augenbewegungen in hoher zeitlicher Auflösung auf. Unmittelbar vor und nach dem Aufenthalt im All wurden auf der Erde mit einem zweiten ETD-System Vergleichsdaten erhoben. Anschließend wurde das gesamte Datenmaterial ausgewertet.
Erste Ergebnisse
„Wir konnten erstmals experimentell beobachten, wie sich das Orientierungssystem des Menschen im All verändert“, so Clarke. Den vestibulären Informationsausfall durch die Schwerelosigkeit kompensiert das Gehirn offenbar durch stärkere Gewichtung der übrigen Sinnesinformationen. Außerdem fanden Clarke und sein Team heraus, dass auch die Steuerung der Augen der Schwerkraft unterliegt. Auch unser Blick „torkelt“ in der Schwerelosigkeit etwas umher. Deshalb ist beispielsweise das Lesen im All anstrengender als auf der Erde.
Die Experimentserie auf der ISS lieferte den Forschern völlig neue Erkenntnisse über das Gleichgewichts- und Orientierungssystem. Dadurch können sie Störungen des Systems besser verstehen und so bessere Therapien für Menschen mit Gleichgewichts- und Bewegungsstörungen entwickeln.
Erfolgsstory auf der Erde
Auch auf der Erde hat sich das für den ISS-Einsatz entwickelte ETD-System inzwischen als Riesenerfolg erwiesen: Es wird heute in vielen namhaften Forschungslaboren weltweit eingesetzt. Der wirtschaftliche Durchbruch für den Hersteller „Chronos Vision“ aber kam, als die refraktive Chirurgie das ETD als optimale Steuer- und Beobachtungseinheit für Laseroperationen an der Hornhaut des Auges entdeckt hat.
Auch eine weitere Boom-Branche hat den Eye Tracker neuerdings im Fadenkreuz: die Hersteller von Multimedia-Produkten. Hier ist der Eye Tracker zur augengesteuerten Interaktion in virtuellen Räumen einsetzbar. Dies könnte angesichts der Marktentwicklung im Computerspiel-Bereich die nächste Stufe des Erfolgs zünden.
Weitere Informationen:
Prof. Dr.-Ing. Andrew H. Clarke
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