Plasma: Von exotischer Forschung zu überraschender Nutzanwendung
Ein deutsch-russisches Plasmakristallexperiment eröffnete 2001 die Forschungen in Schwerelosigkeit auf der ISS. Seitdem hat sich die Plasmakristallforschung zu einer vielversprechenden Erfolgsgeschichte etabliert, die Spin-Offs mit medizinischem Anwendungspotenzial erbrachte. Weitere Einsatzfelder, u.a. in der Halbleiterindustrie, zeichnen sich ab.
Lange Zeit war nur das „gewöhnliche“ Plasma bekannt, das nichts weiter als ein energetisch angeregtes Gas ist, bestehend aus Ionen und Elektronen in einem ungeordneten Zustand. Dann hatte Prof. Gregor Morfill vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) in Garching ein Problem zu lösen, das neue Denkansätze erforderte. Er entdeckte 1981 auf Bildern der Raumsonde Voyager 2 speichenartige Strukturen in den Saturn-Ringen. Theoretische Überlegungen zur rätselhaften Herkunft der „Speichen“ führten ihn schließlich zu einem bisher unbekannten Phänomen, den „staubigen“ Plasmen. Das sind Plasmen mit eingelagerten kleinen Teilchen. Bei genügend hoher Dichte zeigen sich kristallartige Strukturen. Es entstehen Plasmakristalle. Das Besondere ist, dass man sie im Labor mit bloßem Auge betrachten kann. Ein Glücksfall für die Forscher. Denn sie können jetzt Vorgänge in kristalliner Materie wie unter einer Lupe studieren.
Unbekannte Effekte entdeckt
1993 konnte Gregor Morfill im Labor die Plasmakristalle nachweisen. Als Staubersatz nutzte er Melamin-Formaldehyd-Kügelchen mit einem Mikrometer Durchmesser. Und die Forscher sahen all jene Phänomene, die für mikroskopische Kristalle typisch sind: Gitterschwingungen, Gitterdefekte, Korngrenzen und Kornschmelze.
Schnell stellte sich heraus, dass die Schwerkraft eine Störgröße darstellt. Sie verhindert den Aufbau in der dritten Dimension. Es gab also nur ein Ziel: Auf in den Weltraum! 1998 kam aus Russland der Vorschlag, ein gemeinsames Plasma-Experiment auf der Raumstation durchzuführen. Und so bereiteten das MPE und das Moskauer Forschungsinstitut für Hochenergiedichten IHED (heute: JIHT) das Plasmakristall-Experiment PKE-Nefedow vor, das von 2001 bis 2005 im All arbeitete. Es war das erste naturwissenschaftliche Experiment an Bord der ISS und erhielt seinen Namen im Gedenken an den verstorbenen Professor Anatoli Nefedow, einem der wissenschaftlichen Väter des Experiments.
Bereits bei den ersten Tests wurden vollkommen unbekannte Plasma-Effekte beobachtet. Auch später nahmen die Überraschungen kein Ende. Als ein Kosmonaut zu viele Mikropartikel in das Plasma injizierte, bildeten sie in kürzester Zeit kleine und große Klumpen. Ein Phänomen, das nur in der Schwerelosigkeit möglich war. Die Forscher fanden heraus, dass neben der kohäsiven Kraft noch die weit stärkere elektrostatische Kraft wirkte. Das ist eine Erkenntnis, die für Modelle der Entstehung von Planeten bedeutend sein könnte.
Vom Saturn zur Plasma-Medizin
Was beim Saturn begann und reine Grundlagenforschung zu werden versprach, hatte überraschend auch irdische Anwendungen zur Folge. Die von den Garchingern entwickelten Plasmaquellen erzeugen kalte Plasmen bei atmosphärischem Druck. Das war für die Mediziner interessant, die damit auch die hartnäckigsten Bakterien abtöten konnten. Inzwischen wurden handliche Geräte entwickelt, die bald in Serie gehen und zur schonenden, aber effektiven Desinfizierung eingesetzt werden können.
Auch die Halbleiterindustrie, die zunehmend mit Plasmaätzern arbeitet, verspricht sich neue Impulse von den Forschungen.
PKE 4 in Vorbereitung
Auf PKE-Nefedow folgte der verbesserte Nachfolger PK-3 Plus, der seit 2006 an Bord arbeitet. Jedes Jahr führen die Wissenschaftler mit ihm zwei bis drei Experimentserien durch. Im MPE wird bereits die dritte Generation von Plasmaforschungsanlagen für die ISS vorbereitet. Die unter dem Kürzel „PK-4“ firmierende Anlage soll 2013 zur ISS gebracht werden und, anders als ihre Vorgänger, das Plasma mit Gleichstrom erzeugen. Das ermöglicht bessere Beobachtungsmöglichkeiten und das Studium hochgradig dynamischer Effekte, wie Strömungen und Turbulenzen. Damit dürfte die exotische Materieform auch in Zukunft für weitere Überraschungen sorgen.
Weitere Informationen:
Dr. Hubertus Thomas
Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik
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